CS-CN-Gas
Wie hilft man Reizgas Opfern?
Dr. med. Max Daunderer: Das Giftgas CN
ist zehnmal, CS hundertmal gefährlicher als Blausäure – Als erstes Augen und
Haut alkalisieren – Atopiker sind besonders bedroht!
Der Einsatz von Reizgasen bei Massendemonstrationen
wirft eine Reihe medizinischer Probleme
auf. So zeigte beispielsweise die Osterdemonstration von Wackersdorf, daß die ärztliche Versorgung nicht hinreichend
gewährleistet war. Erschwerend kam hinzu, daß die
Ärzte vorher nicht über die den geplanten Einsatz der Kampfstoffe CN und CS
sowie mögliche Rettungsmaßnahmen für die Opfer informiert waren. Vielmehr hat
man die behandelnden Ärzte daran gehindert, effektiv Hilfe zu leisten. Der
Münchener Giftexperte Dr. med. Max Daunderer erläutert im ÄP-Gespräch
mit Dr. Karl Friedrich Schwartz, wie CN und CS wirken
und welche ärztlichen Maßnahmen zu ergreifen sind.
ÄP: Um welche
Substanzen handelt es sich bei CS und CN?
Daunderer: CN ist Chloracetophenon.
Das Kürzel CS steht für die beiden Chemiker Corson und Staughton,
chemisch handelt es sich um Ortho-Chlorbenzyl-Malonsäurenitril.
ÄP: Was weiß man über die Wirkungen der
beiden Reizstoffe im menschlichen Organismus? In welchen Konzentrationen zeigen
CN und CS welche Wirkung?
Daunderer: Zuerst zum CN-Gas. Es ist der
älteste Kampfstoff, 1871 von Grabe entwickelt. Von entscheidender Bedeutung für
die Reizwirkung ist das Halogen Chlor. CN hemmt im Organismus eine Reihe
wichtiger Enzyme wie die Dixanthin-Oxidase, Hexokinase, Pyruvat- und die Alkohol-dehydrogenase. CN reagiert mit Proteinen und
anderen nukleophilen Substanzen – daher ist es ein
potentielles Karzinogen. Als Arzt muß ich betonen, daß man eine Substanz, die möglicherweise karzinogen ist,
nie gegen Menschen einsetzen darf, schon gar nicht gegen kleine Kinder. Dr. Dyer, Direktor der Polizeiklinik in Washington, hat bei 12
von 4800 Polizisten, die gegen Vietnamgegner CN gespritzt hatten, maligne
Melanome gefunden. Das ist eine deutlich erhöhte Krebsrate gegenüber der
Normalbevölkerung. Aus einer Reihe von Tierstudien geht hervor, daß CN auf jeden Fall ein Co-Karzinogen ist. CN besitzt
außerdem ein hohes Allergisierungspotential. Möglicherweise hat das auch beim
Tod des Asthmatikers bei der Demonstration in Wackersdorf eine Rolle gespielt.
Eine Anzahl von Todesfällen durch CN in geschlossenen Räumen ist bekannt.
ÄP: Wie hoch sind die toxischen oder
letalen Dosen von CN?
Daunderer: Die toxische Reizschwelle
liegt bei 0,3 mg/m3, Kampfunfähigkeit wurde bei 5 bis 20 mg/m3 beobachtet, die
Erträglichkeitsgrenze beträgt 1 bis 4,5 mg/m3. Der MAK-Wert liegt bei 0,3 – zum
Vergleich der MAK-Wert der Blausäure: etwa 10.
ÄP: Welche Symptome werden beobachtet?
Daunderer: Starker, brennender Schmerz
in den Augen, der zum Augenreiben veranlasst, rasch einsetzende Tränen-reizende Wirkung, weiterhin Brenngefühle an allen
Schleimhäuten des Nasen-Rachen-Raums sowie Brennen und Stechen der Haut, vor
allem im Bereich von Schürfwunden, bei höheren Dosen Blasenbildung wie bei
Sonnenbrand.
Im Brustraum entsteht Engegefühl, daraus
Panikgefühl. Neben lang anhaltender Konjunktivitis
wurden Lidkrämpfe beobachtet. Bei hohen Dosen drohen bleibende Hornhautschäden
und toxisches Lungenödem.
ÄP: Sind Atopiker
besonders gefährdet?
Daunderer: Ja. Hier findet man an der nicht-exponierten Haut, etwa unter der Unterwäsche, rote
Flecken wie bei einer Allergie. Das haben wir bei Patienten aus Wackersdorf
immer wieder gefunden.
ÄP Wie sieht denn nun die Therapie aus?
Daunderer: Wichtig ist zuerst die
Alkalisierung von Auge und Haut. Ich empfehle, die Augen mit Natron, in einem
Liter Wasser aufgelöst, zu spülen. Phosphatpuffer wirkt ähnlich gut, ist aber
erheblich teurer. Zur Prophylaxe bzw. später Erstbehandlung eines toxischen Lungenödems
gibt man Dexamethasonspray zum Inhalieren.
ÄP: Ist CS ähnlich gefährlich wie CN?
Daunderer: CS gilt als zehnmal
gefährlicher verglichen mit CN. CN wiederum ist zehnmal giftiger als Blausäure,
wie man aus den MAK-Werten ersehen kann. In erster Linie wird CS über den
Atmungstrakt absobiert, aufgrund seiner lipohile kann es aber auch – im Unterschied zu CN – durch
die Haut aufgenommen werden. Bei der Hydrolyse von CS zu Ortho-Chlorbenzalehyd
entsteht im Organismus auch Malo-o-Nitril, das weiter
zu Kohlendioxid und Zyanid abgebaut wird. Es entsteht nach CS-Applikation also
letztendlich Blausäure im Körper. Die letale Wirkung von CS lässt sich in
Tierversuchen durch Zugabe von Thiosulfat vermindern. Kinder und Frauen, die
empirisch eine höhere Empfindlichkeit gegenüber Blausäure haben, sind auch höher
durch CS gefährdet als Männer. Raucher andererseits sind durch ihre
körpereigenen Sulfit-Vorräte mehr gegen Blausäure geschützt; sie können Zyanid
eher zu Rhodanid entgiften. CS wirkt weiterhin als Inhibitor vieler Enzyme, so der Cytochrom-Oxidase,
der Pyruvat-, Succinat-, Lactat-, Malat- und Glutamat-Dehydrogenase. Die toxische Reizschwelle beträgt
0,05 mg/m3, die Unerträglichkeitsgrenze 0,38 mg/min/m3.
ÄP: Welche Symptome beobachtet man bei
der CS-Vergiftung?
Daunderer: Die wichtigsten Symptome
sind:
-
Tränen plus Lidkrampf,
-
Bindehautentzündung,
-
eventuell Hornhaut- und Linsentrübung,
-
Erstickungs- und Panikgefühl,
-
Lungenödem, bei Asthmatikern Gefahr eines Anfalls,
-
Kopfschmerzen und Schwindel,
-
Unfähigkeit, zielgerichtete Wahrnehmungen
vorzunehmen.
ÄP: Besteht ein Unterschied, ob das
Reizgas CS per Wasserwerfer, also im starken Wasserstrahl, oder über Sprühgeräte
verteilt wird? Ist es mit CN ähnlich oder anders?
Daunderer Das gibt es einen Unterschied.
CN ist im Wasserstrahl relativ wenig effektiv, da seine Wasserlöslichkeit
gering ist. CS ist dagegen im Wasserstrahl insofern effektiv, als es zuerst
beim Aufprall auf die Haut fast inert ist, kommt es aber auf die Kleider, verdunstet es, und
dann ist die Effektivität extrem hoch.
ÄP: Glauben Sie, dass die Praktiker
ausreichend über mögliche Schäden durch Reizgase und über entsprechende
Behandlungsmöglichkeiten informiert sind?
Daunderer: Überhaupt nicht. Im Falle
einer Demonstration müssten die behandelnden Ärzte stets vorher informiert
werden. Mir wurde berichtet, dass bis zum Abschluss der Kundgebung keiner der
behandelnden Ärzte wusste, welche Reizgase angewendet wurden. Erst am nächsten
Tag erfuhren sie aus der Zeitung, dass hier der erste Versuch mit CS-Gas
durchgeführt worden war.
ÄP: Lässt sich vom medizinischen
Standpunkt aus ein Einsatz dieser Reizgase gegen größere Menschenansammlungen
verantworten, zumal wenn Kinder und Frauen anwesend sind und auch mit einem
relativ hohen Prozentsatz von Allergikern zu rechnen ist?
Daunderer: Ich halte es für völlig
obsolet, gegen friedliche Bürger mit Giftgasen vorzugehen. Wenn man aber meint,
um den Einsatz derartiger Kampfstoffe nicht herumzukommen, muss vorher die
Bevölkerung unbedingt gewarnt werden. Dass lässt sich von Polizeihubschraubern
aus ohne weiteres machen, wie sich bei Unfällen auf der Autobahn zeigt. In
Wackersdorf hat die Polizei vorher nur „Achtung. Achtung!“ gerufen, nicht aber
vor der potentiell tödlichen Gefahr gewarnt. Außerdem wurden die behandenden Ärzte bei ihrer Hilfeleistung behindert. So
wurde beispielsweise dem örtlichen Arzt für Allgemeinmedizin – vor dem Einsatz
des CS-Giftgases – die Augenspüllösung beschlagnahmt und weggenommen. Wir
müssen in unserer Medizinpresse ein für allemal klarstellen, dass einem Arzt im
Einsatz keine Behandlungseinrichtung beschlagnahmt werden darf.
ÄP: Vielen Dank für das Gespräch.
Ärztliche Praxis – Die Zeitung des
Arztes in Klinik und Praxis, 19.April 1986.