Vergiftungen bei Kindern
Karl Ernst von Mühlendahl und
Ernst Günter Krienke
Mit Beiträgen von
J. Bausch, P. Beyer, U. Brambach,
M, Daunderer, A. Ehring, P. Emmrich,
D. Färber, S. Feldmeyer, L. Geley,
H. M. Grubbauer, M. Gutermuth, W. Hager,
M. Haidvogl, H. Helwig, D. Kahn, K. Kellerer,
J. Kosmützky, H. J. Magerl, Ursula Oberdisse,
R. Ploier, E. Pöhlmann, H. Rosin, F. Sandmann,
E. Schirg, E. Schulz, J. Schwarz, W. Schwerd,
H. Singer, D. Steinbacher, M. Tetzner,
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Herta Wallner, H. Weiß und G. F. Wündisch
HANS MARSAILLE VERLAG
München, 1984
Medizinalkohle
M. Daunderer
Tox Center München
(Leitender Arzt: Dr. M. Daunderer)
ren durchzogen, die Oberfläche der Koh-lepartikel liegt bei etwa 1500 m2/g. Die große Oberfläche ermöglicht eine große Bindungskapazität. Die Teilchen-große und die Poren weite von 20-500 Ä bestimmen die Penetrat/on und dam/t die Geschwindigkeit der Adsorption. Das Pulver ist schwarz, geruch- und geschmacklos, in Wasser und Ethyla/kohol unlöslich.
Beschaffenheit
Tierkohle wurde im Altertum wie heute als Adsorbens und Entfärber verwendet. Sie wird aus Knochen gewonnen, hat mit 10-15% einen geringen Gehalt an Kohlenstoff und eine wesentlich geringere Adsorptionskraft als Kohle aus pflanzlichen Materialien. Sie kann bei einigen Vergiftungen toxisch wirken, wie z. B. bei der Alkoholvergiftung, bei der Aldehyde und Ketone aus der Tierkohle gelöst und resorbiert werden, oder bei der Blausäurevergiftung.
Die Anwendung von Tierkohle als Gegengift sollte daher heute generell unterbleiben.
Medizinalkohle wird durch Verkohlung von pflanzlichen Materialien, wie Holz (speziell Undenholz), Kokosnußschalen oder Moosen, gewonnen, besteht zu 90% aus Kohlenstoff und wird durch gesättigten Wasserdampf oder Kohlendioxid bei hoher Hitze gereinigt und aktiviert. Es kommt hierbei zum Anfressen der Oberfläche, die Kohlekörnchen sind danach von feinsten Kapilla-
Wirkungscharakter
Medizinalkohle adsorbiert in Flüssigkeiten und Gasen gelöste Teilchen und entfernt sie somit aus denselben. Adsorption ist die Bindung gelöster Stoffe an Grenzflächen zwischen festen und flüssigen Medien. Es besteht ein labiles Gleichgewicht zwischen Adsorption und Desorption. Diese Gleichgewichtsreaktion ist nach einer Minute zu mehr als 90% abgelaufen. Nach 24-48 Stunden wird der stabile Kohle-Gift-Komplex durch kompetitive Einflüsse und pH-Wert-Änderungen in den tieferen Darm-abschnitten wieder gelöst. Durch die Zugabe des Laxans Natriumsulfat (Glaubersalz) wird die Passagezeit des Kohle-Gift-Komplexes im Darm auf ein Minimum reduziert.
Medizinalkohle ist atoxisch, sie kann nicht überdosiert, sondern höchstens unterdosiert werden. Die Dosierung richtet sich nicht nur nach der voraussichtlich zu adsorbierenden Giftmenge, sondern auch nach dem Magen-Darm-Inhalt, der ebenfalls adsorbiert wird. Es werden Einmalgaben bis zu 100 g gegeben. Kohle adsorbiert nicht nur chemische Gifte, sondern auch Bakterien und Bakterientoxine (Staphylokokken-Ente-rotoxin), Bilirubin, Vitamine, Verdauungsenzyme, Aminosäuren und andere
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Nahrungsbestandte/fe. Jegliche orale Medikation muß daher für die Dauer der Kohle-Passage durch den Magen-Darm-Trakt unterbleiben.
Medizinalkohle reagiert neutral. pH-Veränderungen beeinflussen jedoch die Adsorptionskraft von Kohle: Salicylsäure wird im sauren Milieu des Magens besser adsorbiert als im alkalischen Milieu des Darms. Durch Magensaft, Nahrungsmittel, ßilirubin und Lipide der Galle wird ein großer Teil der Kohle-Oberfläche besetzt.
Feinstkörnige wäßrige Suspensionen (Kohle-Pulvis, Hersteller: Dr. Franz Köhler Chemie GmbH, 6146 Alsbach-Hähn-lein 1) adsorbieren Gifte wesentlich schneller (90% in 1 Min.) als Kohletabletten (2 Std.), die erst völlig aufgelöst und suspendiert werden müssen. Frisch zubereitete Kohlesuspensionen besitzen im Vergleich zu länger aufbewahrten Kohlesuspensionen keine höheren ad-sorptiven Eigenschaften. Die größte Adsorptionskraft der Kohlezubereitungen verschiedener Hersteller zeigen Kohlekompretten bzw. Kohle-Pulvis. Aus technischen Gründen wird bei der /ntensivbehandlung Vergifteter, bei der Antidotbehandlung oraler Vergiftungen in der Arztpraxis, bei Massenvergiftungen am Unfallort oder bei Anwendung durch Laien die praktische Anwendung von Kohle-Pulvis in der Plastikdose der umständlichen Zubereitung der einzeln verpackten Kohlekompretten vorgezogen. Die negativen Erfahrungen mit derzeitraubenden Zubereitung der Kohlesuspension aus Kompretten haben
Sehr stark werden
adsorbiert:
Amphetamin
Antiepileptika
Atropin
Benzodiazepine
Bisacodyf
Colchizin
Digitalis
Diphenylhydantoin
Ergotamin
Jod
Opiate
Phenol
Pilzgifte
PolyäthylengJykol
Psychopharmaka (trizykl.)
Stark werden adsorbiert:
Chinidin
Chinin
Chloroquin
Ipecacuanha-Sirup
Schlafmittel
(Gluthetimid)
Tenside
Mäßig werden adsorbiert:
Blausäure
Borsäure
Cyanide
DDT
Eisensalze
Ethanol
Ethylenglykol
Lösungsmittel
Methylalkohol
Schädlingsbekämpfungsmittel
(Alkylphosphate, Carbamate)
Nicht adsorbiert werden:
Mineralsäuren mineralische Laugen in Wasser unlösliche Stoffe (z. B. TolbutamidJ
Tab. 5. Adsorptionskapazität von Medizinafkohle
uns veranlaßt, die Herstellung derprakti-schen £inmalapplikationsform im Schraubbecher anzuregen.
Alternative Adsorbentien
Medizinalkeohle ist bei den meisten Vergiftungen anderen Adsorbentien, wie ßolus alba, Cholestyramin, Kaolin, Talk, Milchpulver oder Alasksan montmoril-lonte (ßentonit, Kaolin und Magnesium-trisifikat), überlegen, ßentonit oder Am-berlit sind lediglich bei der Paraquatver-giftung der Kohle etwas überlegen. Cholestyramin ist bei der Digitalis- und Acetaminophenvergiftung Kohle geringfügig überlegen. Im Universalanti-dot wird ein großer Teil der Adsorptionskraft von Kohle durch Tannin blockiert, es ist daher schlechter als reine Kohle.
eine wochenlange Dauertherapie unter oraler Ernährung könnte zu Vitamin- und Eiweiß-Mange/erscheinungen führen. Eine Inhalation von Kohlestaub oder Aspiration von Kohlesuspension ist völlig ungefährlich.
Kohlezeit
Die Zeitspanne, die zwischen der oralen Gabe und dem Auftreten der Kohle im Stuhl verstreicht, wird als Kohlezeit bezeichnet Sie dient zur Beobachtung der Darmpassage des Giftes. Wenn die Kohle im Stuhl auftritt, hat bei genügend hoher Kohledosierung der nicht aus dem Darm resorbierte Giftanteil den Körper verlassen. Eine Abführmittelzugabe verkürzt die Kohlezeit.
Wirkzeit
Viele oral eingenommenen Gifte halten sich oft erstaunlich lange, ja sogar einige Tage lang im Magen-Darm-Trakt auf. Viele Gifte, wie Schlafmittel, Thallium, trizyklische Antidepressiva, Digitalis und Opiate, haben einen enterohepatischen Kreislauf, d. h. die resorbierten Gifte werden in der Leber abgebaut und zum Teil über die Galle wieder in wirksamer Form in das Duodenum gebracht. Hier kann die wiederholte Kohle-Gabe eine erneute Resorption unterbrechen und die Halbwertszeit erheblich reduzieren (Alternative zur Hämoperfusion).
Dauertherapie
Kohle wird auch in extrem hohen Dosen von z. B. 100 g gut vertragen. Lediglich
Indikationen
Tenside in Wasch- und Reinigungsmftr te/n werden stark adsorbiert. Die Adsorptionskraft von Medizinalkohle bei Paraquatvergiftungen wird von Amber-lit, Bentonit oder Füllers Earth deutlich übertroffen, ist jedoch der Gartenerde weit überlegen.
Organische Lösungsmittel, wie Benzol, Diethylamin, Tetrachlorethan, Tetrachlorkohlenstoff u. a., werden von Medizinalkohle fast ebenso gut adsorbiert wie von Paraffinöl.
Pilzgifte und andere giftige Nahrungsbestandteile (Histamin, Proteus, Choleravibrionen) werden von Medizinalkohle hervorragend adsorbiert. Schädlingsbekämpfungsmittel, wie Alkylphosphate und Carbamate, werden zwar an Kohle adsorbiert, infolge der darmlähmenden Wirkung der bei Vergiftungen angewandten hochdosierten Antidottherapie
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m/t Atropin empfiehlt sich hier anfangs die Zugabe von Natriumbikarbonat zum Magenspülwasser bzw. zum hohen Darme/nlauf zur Inaktivierung der Gifte und erst später die wiederholte Gabe von Kohle.
Alkohol, Methylalkohol und Ethylengly-kol werden zwar leicht an Medizinalkohle adsorbiert, aber auch rasch wieder de-sorbiert.
Klinisch bewährt hat sich die wiederholte Anwendung von Kohle über die Magensonde, z. ß. bei Pankreatitis, Hypothermie oder paralytischem Heus, zur Verhinderung eines Endotoxinschocks. Medizinalkohle bindet hier toxische Abbauprodukte im Darm, die eine schädigende Wirkung auf parenchymatöse Organe haben können. Die älteste Indikation für Kohle, die Reduktion der Flatu-lenz, wird über die Adsorption der sie erzeugenden Bakterien erklärt.
Wirkungslosigkeit
Praktisch nicht an Kohle adsorbiert werden Mineralsäuren, Natriumsulfat, Natriumhydroxid, Kaliumhydroxid und in Wasser unlösliche Substanzen, wie Tol-butamid. Schlecht adsorbiert werden Ei-sensuffat, Malathion, DDT, N-Methytcar-bamat, Borsäure und Thallium. Blausäure wird ebenfalls kaum von Kohle adsorbiert und hebt zugleich die adsorptive Wirkung von Kohle auf. Bei der Herstellung von Medizinalkohle ist daher auf die Freiheit von Blausäure zu achten.
Agitation oder Benommenheit fehlt ohnehin die Kooperation des Patienten. Eine Aspiration wäre nicht gefährlich.
Alternative zum Erbrechen
Ein Salzwassererbrechen kann durch eine Natriumvergiftung gefährlich, ja sogar tödlich sein. Ein Apomorphinerbre-chen kann wegen Kreislaufnebenwirkungen, Ipecacuanha-Erbrechen wegen Wirkungslosigkeit oder Gefahr zerebraler Nebenwirkungen bei Überdosierung gefährlich sein. Außerdem erfolgt die Entleerung des Magens nach einmaliger Füllung vordem Erbrechen insuffizient. In allen Fällen ist hier die orale Gabe von Aktivkohle schneller wirksam, effektiver und gefahrloser. Selbst nach einer Magenspülung, die lege artis mit 40 l Wasser durchgeführt wurde, müssen die Giftreste aus dem Magen und den tieferen Darm abschnitten durch Kohle gebunden werden.
Durch die sofortige Gabe von Kohle am Unfallort bei ansprechbaren und kooperativen Patienten kann in leichteren Fällen ein provoziertes Erbrechen erspart werden, in ernsteren Fällen nach vermutlicher Aufnahme toxischer Giftmengen kann sich in der Klinik die Magenspülung anschließen. In den Fällen, in denen früher an ein provoziertes Erbrechen als Erstmaßnahme gedacht wurde, empfiehlt sich heute die Kohlegabe in ausreichender Menge und rascher Zubereitung.
Kontraindikation
Es gibt keine Kontraindikation für die orale Anwendung von Medizinalkohle. Nach Ätzmittelingestion ist eine Kohlegabe wirkungslos und damit sinnlos. Bei
Dosierung
Die Dosierung bei oraler Applikation muß etwa 10fach höher liegen als in vitro für die aufgenommene Giftmenge berechnet, da die Kohle den gesamten
Magen-Darm-Inhalt adsorbiert; 100fa-che Dosen sind jedoch auch vertretbar. Als einmalige Dosis so//te bei jedem Vergiftungsverdacht nach oraler Giftaufnahme eine Einze/dosis von 10 g Kohle-Pulvis bei Erwachsenen, etwa die Hälfte bei Kindern und etwa V4 bei Säuglingen eingegeben werden. Viele Gifte, wie Schlafmittel, Thallium, Morphium, Knollenblätterpilze, haben eine Rezirkufation oder einen enterohepatischen Kreis/auf; hier Ist 4- oder 8stündlich die Wiederholung der ersten Kohlegabe indiziert. Auch die rektale Applikation von Kohle ist insbesondere bei Giften mit einer schnellen Magen-Darm-Passage, wie Alkylphosphate oder Schwermetalle, indiziert.
Natriumsulfatgabe
Nicht die Kohle, jedoch die Giftwirkung (Schlafmittel) oder das plötzliche Wegbleiben einer Giftwirkung (Staphylokok-ken-Enterotoxin) führen zur Obstipation. Da der Kohle-Gift-Komplex jedoch nach einiger Zeit, spätestens nach 48 Stunden unter Freigabe des toxischen Substrats wieder zerfällt, muß er den Magen-Darm-Trakt möglichst rasch verlassen. Die Zugabe eines Laxans, das nicht an die Kohle absorbiert wird, wie Natriumsulfat (Glaubersalz) - nicht Magnesiumsulfat, das durch die resorptive Wirkung von Magnesium zu einer Schlafmittel-Vergiftungssymptomatik führen kann -, ist hier nötig.
Zusammen oder im Anschluß an die erste Dosis kann - mit Ausnahme einer schweren Diarrhöe bei Schwermetalloder Nahrungsmittelvergiftungen - das salinische Abführmittel Natriumsulfat (Glaubersalz, 2 Eßlöffel bei Erwachsenen, die Hälfte bei Kindern, 1/4 bei Säuglingen) in Wasser aufgelöst oder bei fett-
löslichen Giften Paraffinöl (1,5 ml/kg KG) eingegeben werden. Bei anhaltender Obstipation durch die darmlähmende Wirkung mancher Gifte (Schlafmittel, Psychopharmaka, Atro-pin) ist auch ein Laxans, wie Natriumsulfat, wirkungslos, und nach einmaliger Applikation wird nur reine Medizinalkohle gegeben.
Bevorratung
In der Hausapotheke, in der Betriebsapotheke und In der Notfalltasche des Arztes sollte Kohle-Pulvis vorrätig sein. Für den Fall einer Massenvergiftung durch verdorbene Lebensmittel sollte in jedem Betrieb für jeden kantinenverpflegten Betriebsangehörigen eine Einzeldosis Kohle-Pulvis bereitgehalten werden. Ein Kreiskrankenhaus sollte für einen Einzugsbereich von je 50000 Einwohnern je 200 Einzeldosen bereithalten. La-gerungs- und Haltbarkeitsprobleme gibt es nicht, da dieses Gegengift unbegrenzt haltbar ist.
Zusammenfassung
Die orale Antidot-Therapie mit Medizinalkohle ist nach oraler Giftaufnahme außerordentlich effizient und gerade für Laien im Verdachtsfalle leicht anwendbar. Es gibt keine Kontraindikationen. Die Unterlassung dieser Therapie kann als ärztlicher Kunstfehler gewertet werden. Kohle ist das wichtigste Antidot einer Hausapotheke.
Literatur
DAUNDERER, M.: Klinische Toxikologie. Eco-med, Landsberg, 1980.
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