Zahnherde 1951

 

Mit der Feststellung: „nichts in der Natur geschieht ohne Grund“, soll nicht gesagt sein, dass wir Menschen diesen Grund stets richtig zu erkennen vermöchten. Allem Wissensstolz des Menschen zum Trotz drängt sich vielmehr mitunter die bittere Erkenntnis auf, dass uns das nur in seltenen Fällen gelingt.

 

Und zwar darum: Jeder Tag bringt an irgendeinem Ende der Wissenschaft Neues hinzu, das auf der einen Seite zwar unsere alten „Gründe“ umstößt, auf der anderen aber unsere Gründeforschung wiederum bereichert und kompliziert. Mit dem, was wir demnach heute wissen, war gestern noch nicht zu rechnen. Und so ist unsere Kausalforschung zeitgebunden, meist lückenhaft und ein Torso.

 

Im übrigen aber steht fest, dass es in dem dem Menschen wahrnehmbaren Geschehen und insbesondere in der Medizin einen einzigen Grund nur selten gibt. Wollen wir also wahrhaft kausal denken und handeln, so haben wir zu unserem Leidwesen stets an mehrere Gründe zu denken.

 

Wegen der meist vorhandenen Vielheit der Gründe aber wird verständlich, dass bis vor kurzem in der Medizin ein System das andere abgelöst hat, das jeweils einen einzigen Grund als entscheidend in den Vordergrund schob. Und so wurde aus einem „monistischen“ Gedankengebäude in der Regel auch eine „monistische“ Behandlung mit ausschließlichem Geltungsanspruch. Und so versteht sich, dass man wie überall in der Wissenschaft so auch in der Medizin stets mit allen Mitteln und reichlich unduldsam kämpfte.

 

Schon bei den verschiedenen Lehrgebäuden, die dem Kreislaufverhalten oder dem Blut im Krankheitsgeschehen entscheidende Wirkung zusprachen, waren wir auf Stützkonstruktionen oder Baugerüste ge- Zahnherde

 

Man bringt den Grünen Star und andere Augenleiden, Ohrkrankheiten, Reflexneurosen, psychische Störungen und Verdauungskrankheiten mit Zahnleiden in Verbindung. Delbanco spricht bereits von der Mitschuld der Mandeln.

 

Um das Jahr 1990 herum greifen auch Nordamerikaner ein. Hier ist es der Chicagoer Arzt Frank Billings (1854 – 1932), der mit den Kenntnissen der Wiener Schule ausgerüstet, seit dem Jahr 1905 als Professor der Medizin das Thema aufnahm und mit seinem Schülerkreis zu einer Systematisierung brachte, die in anderen Ländern trotz vielleicht früherer Erkenntnis der Zusammenhänge nie erreicht worden ist. Von ihm stammt der Wandel einer auf den Erkenntnissen des Totenreichs aufgebauten Krankheitslehre zu einer lebendigen Pathologie. Der Begriff und Name der „focal infection“ rühren von ihm her.

 

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Die Herdinfektionslehre stieß nach anfänglicher Begeisterung auf ständig wachsenden Widerstand. Dennoch hat sich auch in diesen Jahren der Flaute eine Reihe von deutschen Autoritäten auf der Seite der Herdinfektionslehre gehalten, die damals den Reiz der Neuheit verlor und durch andere „Moden“ verdrängt zu werden schien. Besonders hervorzuheben ist der Jenaer Kliniker Wolfgang H. Veil, der dafür sorgte, dass sich dem Ganzen die Wärme erhielt. Schon im Jahre 1928 hatte er bei einer Abhandlung über die „Rheumatische Infektion“ darauf hingewiesen, dass es Herde, besonders die im Mund seien, „denen der Weg zur Nierenentzündung und zum Gelenkrheumatismus in jedem Fall frei stehe“ und er forderte die Hals-Nasenärzte und Zahnärzte auf, die Sache gemeinsam zu lösen. „Wie oft“, so sagte er, „begegnen sich ihre Gebiete an der Kieferhöhle, die vom Zahn her infiziert ist und unbehandelt bleibt, weil der Zahnarzt zur ärztlichen Verantwortung nicht genügend erzogen wurde und sich deshalb meist gar nicht dafür interessiert, bis der Internist sich mit der rheumatischen Infektion oder anderen Schäden befasst.

 

Recht oft finden sich auch Gemütsdepression, Schwindelanwandlungen, Herzklopfen und –jagen, Herzstiche, auffallend müde Arme und Beine und Erhöhung des Blutdrucks, eventuell nur nach körperlicher Anstrengung!“ Wie wir später sehen werden, stehen aber neben diesen unbestimmteren Beschwerden deutlich sichtbare und tief zerstörende Leiden, insbesondere die zur Versteifung führenden Erkrankungen an den Gelenken.

 

Die Bestimmung der Herde

 

Was gilt nun als Infektionsträger im einzelnen? An erster Stelle stehen da sämtliche „toten“ Zähne. Das sind diejenigen, die keinen „Nerv“, keine „Pulpa“ mehr haben. Diese Zähne sind, darüber muß man sich im…..

 

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…von Gelenkrheumatikern, die allen anderen Behandlungen trotzten, durch Ausschabung („Kürettage“) der Mandeln geheilt.

 

Etwas später – um 1910 – kann ein anderer Deutscher, der Dresdener Professor Paessler, das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, in weit sichtbaren und hörbaren Veröffentlichungen auf die „Herdinfektion“ hingewiesen zu haben. Er war es auch, dessen Kassandrarufe den deutschen Ärzten galt und der sie in er Tat mit seinem ständigen Trommelschlag weckte.

 

Die letzten und entscheidenden Anstöße kamen jedoch auch für die Wissenschaft von der Billingsschen Schule. Und so war in den zwanziger Jahren kein Mensch darüber im Zweifel, wie groß das Verdienst der Amerikaner in diesem Forschungsabschnitt ist.

 

Die Nordamerikaner und mit ihnen die Briten haben seitdem die Konsequenzen aus der Lehre gezogen, während bei uns in dieser Hinsicht immer noch die größte Verwirrung herrscht, und, das muß man gestehen, auch weiter gefördert wird. Die Umsetzung in die Tat, die Realisierung einer wissenschaftlich völlig anerkannten Lehre, werden durch Mangel an Einheit in der Medizin in forscherischer wie in verwaltungstechnischer Hinsicht unmöglich gemacht.

 

Eine Reihe von typischen Stellen der Herdmöglichkeit durchsetzt den Körper. Die wichtigsten und am häufigsten tatsächlich Beteiligten sitzen im Mund. Sie stellen rund 85% der Herdinfektionsquellen. Sieht man näher….

 

 

 

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Wir wissen jetzt, dass es fast unmöglich ist, eine Krone anzubringen, einen Wurzelkanal zu füllen oder eine Brücke zu befestigen, ohne die Wurzel des Zahnes, der in den Prozeß hineinbezogen wurde, zu infizieren…. Die Zahnärzte machen heutzutage Gebrauch von einer fast völlig umgekehrten Technik, um diese Gefahren möglichst auszuschließen… Diese Infektionen sind meistens stumm. Weder der infizierte Zahn noch die infizierte Mandel machen Schmerzen oder irgendwelches Unbehagen in der Gegend ihres Sitzes. Aus diesem Grund bleiben sie unentdeckt.

 

Eine lange Liste von Krankheiten wurde der Herdinfektion zugeschrieben. Arthritis, Gelenkentzündungen, Neuritis oder Neuralgie…. können auf diese Weise entstehen. Schwindel auf Grund einer Neuritis des Vestikularzweiges der Hörnerven oder infolge einer direkten Infektion der Bogengänge des Innenohrs ist ein gewöhnliches Ergebnis der Herdinfektion. Ernster noch sind die kleinen Abszesse im Herzmuskel und in den Nieren.

 

Natürlich bietet jede derartige Hypothese, die inhaltlich so verlocken und praktisch zugleich in der Lage ist, so viel Gutes zu stifen, Angriffspunkte für eine Überausbeutung. In den letzten Jahren fand eine wahre Orgie im Zahnziehen und im Mandelherausreißen statt. Jedoch war…..

 

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…. Denn sonst könnten Zahnherde nicht so häufig übersehen oder gar genau noch fast wie vor 20 oder 30 Jahren ständig konserviert oder gar erzeugt werden… Der bei fortschreitendem medizinischem Wissen immer gebieterischer werdende Appell an das Gewissen der Zahnärzte, mit alteingebürgerten, aber überlebten Praktiken endlich Schluß zu machen und das wie eine Lähmung über der Zahnheilkunde lastende Unvermögen, sich den dringend notwendigen, modernen Forderungen anzupassen, bringt gerade die besten unter den Zahnärzten in eine unerquickliche Situation voller Gewissenskonflikte.“

 

Die von den Zahnärzten gezüchtete Herdinfektion ist, nach Hoepfel „ähnlich wie die Tuberkulose als weitverbreitete und vielleicht noch gefährlichere Volksseuche“ zu betrachten, „deren größte Gefahr in ihrer heute immer noch viel zu mangelhaften Würdigung“ liege. „Die tagtäglich….

 

Selbst der Fachmann ringt die Hände

 

 

… letzten Endes das Maß an Schaden, der dadurch entstand, gering und die Menge Segen, der gespendet wurde, groß.“

 

Und wie urteilt der moderne Zahnarzt Professor Proell in einer der großen Fachzeitschriften im Jahre 1949 (Zahnärztliche Welt): „Trotz schärfster Bekämpfung hat sich das anfänglich wenig beachtete Problem im Prinzip durchgesetzt und sich in eine überaus bedeutungsvolle, nahezu allseitig anerkannte Krankheitslehre gewandelt. Kein Einsichtiger wird heute an der Existenz der Herdinfektion zweifeln, da genügend Beweise vorliegen, dass auch langwierige und schwere Leiden, die bis dahin jeder Behandlung widerstanden, durch Entfernung eines banalen Herdes oft schlagartig beseitigt wurden… Sind Mandeln und Zähne herdverdächtig, so sind zunächst die schuldigen Zähne zu entfernen, da eine Mandelentzündung oft von kranken Zähnen unterhalten wird.“

 

An der gleichen Stelle spricht Dr. med. et med. dent. Hoepfel: „Bei der weit überwiegenden Mehrzahl der Ärzte gilt die …. Mandelherausschälung als die Methode der Wahl, und eine konsequente Einhaltung der Linie wird dauernd durch schöne Behandlungserfolge belohnt. Bedauerlicherweise ist man hinsichtlich des Zahnsystems, das als Herdquelle genau die gleiche Beachtung verdient wie die Mandeln, noch lange nicht soweit gekommen. Denn sonst könnten Zahnherde nicht so häufig übersehen oder gar genau noch fast wie von 20 oder 30 Jahren ständig konserviert oder gar erzeugt werden…. Der bei fortschreitendem medizinischem Wissen immer gebieterischer werdende Appell an das Gewissen der Zahnärzte, mit alteingebürgerten, aber überlebten Praktiken endlich Schluß zu machen und das wie eine Lähmung über der Zahnheilkunde lastende Unvermögen, sich den dringend notwendigen, modernen Forderungen anzupassen, bringt gerade die besten unter den Zahnärzten in eine unerquickliche Situation voller Gewissenskonflikte.“

 

Die von den Zahnärzten gezüchtete Herdinfektion ist nach Hoepfel „ähnlich wie die Tuberkulose als weitverbreitete und vielleicht noch gefährlichere Volksseuche“ zu betrachten, „deren größte Gefahr in ihrer heute immer noch viel zu mangelhaften Würdigung“ liege. „Die tagtäglich……

 

Quelle: „Du und die Medizin – Neue und alte Kunde vom Heilen“

Von Dr. K.R. Roques, 1951