2011  Sterbebegleitung als Zeichen des Danks und der Liebe

Hilflos muss ich zusehen, wie der böse Keim Chlostridium perfringens und intensive Therapieschritte der Reihe nach alle meine lieben Katzen und Wegbegleiter schmerzlos dahinrafft.

Seit Weihnachten ist das TOX CENTER ein Sterbehaus. Einer nach dem anderen ist an der Reihe. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Am 19.7.00 starb Schnecki, unser Naturbursche, am 8.9. wurde Fuchsi durch einen Klinikaufenthalt vorübergehend gebessert, am 10.Oktober 2010 starb die „Urmutter Lisa“ im Alter von 13 Jahren. Bis zum Tod am 20.1.2011 kämpfte ihr Enkel Sascha um jede Minute, Harty liegt im Arm am Computer und sieht mich verzweifelt an. Außenrum liegen andere mit geschwollenen Nieren, apathisch und traurig.

2009 Dreizehn Mitarbeiter beim Toxikologen Max [PDF; 9,7 MB]

Der Tod ist der strenge Wegbegleiter jedes Arztes. Seiner Existenz verdankt der Arzt jedoch seinen Wissensdurst und die Ernsthaftigkeit zum Handeln.

Als kleiner Bub war ich mit meinem Vater in Krün bei Mittenwald in Urlaub. Vater wurde zu einem Notfall ins Nachbarhaus gerufen und nahm mich wie immer als Arzt zu Hausbesuchen mit. Die Frau war sehr krank, hatte einen Schlaganfall und atmete oberflächlich. Ins Krankenhaus kamen nach dem Krieg nur sehr wenige, niemals Hoffnungslose. Vater sagte den Angehörigen, dass die Kranke sterben müsse. Alle Nachbarn kamen der Reihe nach, jeder half irgendetwas. Die Herzlichkeit und Selbstverständlichkeit gehörte damals zur bayerischen Volksseele. Nicht Trauer, sondern gegenseitige Hilfe war dominierend beim Sterben. Die alten Frauen beteten, die Männer machten Feuer und diskutierten, wie es weiter geht. Der Pfarrer drückte ihre Augen zu und stellte Kerzen auf. Die Kinder waren alle leise, niemand hatte Angst. Sterben galt als etwas ganz natürliches. Alle waren sehr lieb zu mir, trugen mir viele Fragen auf, die ich später Vater fragen sollte. Es entstand ein herzlicher Kontakt mit Wildfremden. Dies ging drei Tage so. Meinem Vater war zwar der Dreitagesurlaub verdorben, aber er ertrug es mit Würde. Er war erst aus der Kriegsgefangenschaft heim gekommen und hatte gehofft, einige Zeit kein Sterben mehr erleben zu müssen.

Der Tod war danach lange Zeit unser gemeinsames Gesprächsthema. Vater, dessen bester Freund Federl Krankenhauspfarrer wurde, hatte in seiner Kindheit viel „Pfarrer gespielt“ und packte alles von der religiösen Seite an, während Mutter stets die intellektuellen Argumente ins Spiel brachte. Beides zusammen ergab ein stabiles Weltbild. Beide Aspekte zusammen waren mir sehr viel wert.

 Da ich kein Taschengeld bekam verdiente ich als junger Medizinstudent mein Geld bei Sitzwachen Sterbender. Meine Vorkenntnisse durch Vater mit EKG und Wiederbelebung waren besonders bei Privatpatienten hoch gefragt. 1960 war ich damit der einzige Student in München. Meine Sitzwachen waren sehr gefragt.

Für eine ganze Nacht bekam ich 20 DM. Dies erhielt ich jedoch nur, wenn der Patient die ganze Nacht am Leben blieb, sonst weniger. Es war die Kunst, ihn am Leben zu erhalten. So lernte ich, was Sterbenden gut tat. Von Ärzten hörte ich, was ihnen den schnellen Tod brachte. Niemals starb ein Kranker während meines Dienstes. Die anderen Studenten beneideten mich.

Natürlich lernte ich viele Tricks. Unruhig waren stets diejenigen, deren Gehirn zuwenig Sauerstoff bekam. Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel reduzierten die Herzkraft und damit das Überleben. Eine Tasse Kaffee gab den Kranken Kraft, Energie und Überlebenskraft. Die Kranken redeten danach viel mit mir. So kochte ich Unruhigen oder Schmerzpatienten Kaffee, das beruhigte viel besser als Morphium und hielt sie zudem am Leben.

Meiner Mutter flösste ich als sie nach einem Sturz im 92.Lebensjahr tief im Koma war über die Magensonde etwas Kaffee ein, was ihr enorm gut tat, sie lächelte froh.

Die Gespräche mit den Sterbenden waren für beide sehr wichtig. Ich fragte, was sie jetzt bewegt, was sie sich jetzt wünschen, worüber sie im Leben stolz waren, was sie Angehörigen noch sagen wollen. Dies schrieb ich auf und legte es hin. Dadurch wurden alle ruhig. Komatösen erzählte ich etwas vom Tage, oft sang ich leise eine Arie aus der Oper.

Stets achtete ich darauf, dass der Mund stets feucht blieb trotz Sauerstoff und offenem Mund. Als Sitzwache musste ein eng bepacktes Programm durchgeführt werden. Daneben blieb jedoch viel Zeit zum unterhalten. Die Kranken waren froh, mit jemand reden zu können, der nicht ständig weint und viele Fragen beantworten kann.

Ich erfuhr, dass Sterbende unglücklich sind, dass sie mit ihren Angehörigen nie über den Tod reden können. Sie wurden ständig vertröstet mit „das wird schon wieder“ oder „Du wirst bald wieder gesund“ – obwohl dies offensichtliche Lügen waren. Die Sterbenden fühlten sich völlig allein gelassen und abgeschoben.

Natürlich wurde bei der Übergabe des Falles exakt besprochen, dass medizinisch keinerlei Hoffnung mehr bestand, es keine Lebensverlängerung gab.

Oft hielt ich die Hand des Sterbenden, um den letzten Weg gemeinsam zu gehen. Sogar im Koma erfolgte oft ein Gegendruck, wenn ich Schönes erzählte.

Natürlich brannte stets schwaches Licht und es war ruhig.

Wo es ging versuchte ich Angehörige zu kontaktieren.

Nach meiner Kliniktätigkeit führten mich wieder Sterbende in das Reich der Dankbarkeit zu Leben. Eine Siebenjährige Leukämiekranke bat zunächst um Zytostatikaspritzen zuhause, da sie „keine“ Venen mehr hatte und ich durch meinen Goldbedingten „Handzitterer“ gewohnt war, sehr langsam und exakt zu spritzen, es tat überhaupt nicht weh, dauerte nur sehr lange. Dann half ihr nichts mehr, sie sollte sterben. Ihr Vater hatte sich abgesetzt, die Mutter war verzweifelt. Das Kind wollte nicht in der Klinik sterben. Ich besuchte sie täglich ganz in der Nähe. Die Kasse zahlte etwas. Die Gespräche wurden immer länger, die Gesundheitsprobleme immer größer. Drei Monate dauerte der Todeskampf. Die Dankbarkeit der Kleinen entschädigte für alles. Danach trat eine ungeheuere Leere ein. Mein Sohn Peter, mein späterer Lebensretter, der mich auf der Strasse erfolgreich reanimiert und defibrilliert hatte,  bat als Jugendlicher für den Opa seines besten Freundes, bei dem gerade das Endstadium eines Lungenkrebses durch Rauchen diagnostiziert wurde, ihm zu helfen, dass er das Sterben zuhause machen dürfe. Auch dies dauerte wieder drei Monate. Zuletzt übernachtete ich bei ihm im Ehebett, da er trotz seiner Morphium Infusion nachts zweistündlich Schmerzen hatte und ständig um einen Besuch bat. Er wohnte weit weg von mir. Morphiumpflaster gab es 1981 noch nicht. Die lebensbejahenden Gespräche des tapferen alten Mannes trösteten mich über alle Mühen hinweg.

Nach meinem vierten von fünf Herzstillständen durch Herzinfarkt 2009 freute ich mich riesig als ich meinen Sohn Peter und einen seiner Brüder nach meiner erneuten Reanimation sah, sie drückten mir schnell das Foto meiner (jetzt todkranken) Lieblingskatze Harty in die Hand, was mir einen ungeheueren Energieschub brachte. Kleinigkeiten können in einer solchen Situation oft Berge versetzen.

Glücklich sind diejenigen, die im Kreise ihrer Lieben abtreten dürfen. Alle sterbenden Katzen verziehen sich stets in die Abgelegenheit. Wenn man sie daraus holt, sind sie jedoch überschwänglich glücklich und teilen mit ihrer Bezugsperson ihr Leid. Mein Kater Sascha hatte sein Sterbelager im Schrank verlassen und wartete in meinem Bett auf mich. Das hat er in den letzten Jahren nicht mehr gemacht. Stets war er nachts eng an seine Schwester Sara geschmiegt und küsste sie in den Schlaf. Diese schläft nun auf dem warmen Computer und ist gereizt und traurig.

Sterbebegleitung bekommen nur die zu Lebzeiten Geschätzten, die anderen kommen in Einrichtungen, Tiere werden eingeschläfert. Wie man mit seinen Haustieren umgeht (Chemienahrung, Einschläfern), so geht man später auch mit seinen Mitmenschen um. Der Umgang mit Sterbenden ist ein Abbild dafür, wie man grundsätzlich Geschöpfe achtet.

Wer sein Leben lang sozial war, wird von den Seinen auch herzlich in den Tod begleitet, ein Weg findet sich immer. Jedermann sollte stets daran denken, wie es mit ihm im Alter weitergeht. Da die globale BSE Vergiftung Millionen Ältere nach Ablauf ihrer Latenzzeit von 30-50 Jahren dahinrafft, die zwar lapidar als „Alzheimer“ abgetan werden, kommt noch eine ungeheuere Welle von langsam Sterbenden auf uns zu. Es ist eine Herausforderung:

Alles, was ihr wollt, das man euch tut, das tut auch eurem Nächsten!“