Lösungsmittelmerkblatt gravierender Fehler verhindert Rente

 


 Sie leiden an Nervenschäden, Magenbluten, Lähmungen und Kopfschmerz. Kfz-Mechaniker, Maler, Metallverarbeiter – Menschen, die durch giftige Dämpfe an ihrem Arbeits-platz schwerkrank geworden sind.

Laut Expertenmeinung sind Tausende dieser Arbeiter betroffen – doch nur ein Dutzend bekam bisher eine finanzielle Entschädigung von den Berufsgenossenschaften.

Der Rest hangelte sich von einer Krankschreibung zur nächsten oder mußte seine Arbeit ganz aufgeben. Die Folge: viel menschliches Leid und Kosten für die Solidarkassen in Millionenhöhe.
Doch nun können Chemiekranke mit einer Wiedergutmachung rechnen. Ein Schreiner aus Franken, der durch giftige Holzschutzmittel erkrankt ist, deckte einen unglaublichen Skandal auf: Ein wichtiges Merkblatt, mit dem begutachtende Ärzte und auch Sozialgerichte die Symptome einer Berufskrankheit durch Lösungsmittel erkennen sollten, entsprach nicht der

Originalvorlage des Ärztlichen Sachverständigenbeirats des
Bundesgesundheitsministeriums:

„Mit dem falschen Merkblatt konnten die Hausärzte und Gutachter die Berufserkrankung nicht richtig diagnostizieren“, sagt Schreiner Peter Röder.
Seine Ermittlungen hatten jetzt endlich Folgen: Das umstrittene Merkblatt musste umgeschrieben werden, wie ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums bestätigte.

Die wichtigste Änderung: Auch wenn Betroffene den giftigen Lösungsmitteln nicht mehr ausgesetzt sind, kann sich das Krankheitsbild verschlechtern.

Konkret geht es um das „Merkblatt für die Berufskrankheit 1317“
(„Polyneuropathie oder Enzephalopathie – das sind Nerven- oder Gehirnschädigungen – durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“).

Unter Experten gilt die BK 1317 schon lange als eine der häufigsten Berufserkrankungen.

Neurologe Peter Binz aus Trier (einer "der zehn Gerechten", von der die Bibel schreibt *) s.u.):

„Wir haben Tausende von Betroffenen mit Nervenschäden durch
Lösungsmittel.“ Für sie alle wurde nach jahrelangen Debatten 1997 die Berufskrankheit 1317 eingeführt, um die Geschädigten im Notfall durch eine Rente abzusichern. Schon damals hieß es in der dazugehörigen Veröffentlichung im Bundesarbeitsblatt explizit: Eine Verschlechterung des Krankheitsbildes ist auch nach Beendigung des Kontaktes zu Lösungsmitteln möglich.

Merkwürdig: Die erwartete Masse an Berufserkrankten blieb aus – von 1997 bis 2002 wurden nur vier Prozent der Verdachtsfälle von der Berufsgenossenschaft anerkannt.

Auch Schreiner Peter Röder fiel durch den Rost, obwohl ihm die Ärzte schwere Nervenschäden in Folge einer Lösungsmittelvergiftung bescheinigten. Zunächst ein Schock, doch dann machte sich Röder (bekommt heute Hartz IV) an die Recherche, gründete die Initiative Kritischer Umweltgeschädigter (www.bk1317.de).

Er wälzte Fachliteratur, verbrachte Stunden in Bibliotheken – und entdeckte etwas Unfaßbares: Im Merkblatt 1317, mit dem die Hausärzte und Gutachter der Vorsicht, giftig! Für Viele Alltag am Arbeitsplatz. Berufsgenossenschaften arbeiten, wird behauptet, daß sich die Krankheitssymptome der BK 1317 verbessern oder sogar ganz ausheilen können, sobald der Kontakt zu organischen Lösungsmitteln beendet ist.

Das bedeutet: Wer keine Dämpfe mehr einatmet, aber dennoch krank ist, kann keinesfalls Lö-sungsmittelgeschädigter sein. Eine Aussage, die völlig im Gegensatz zu den Original-Empfehlungen zur Einführung der Berufskrankheit 1317 steht.

Was steckt dahinter?

„Das ärztliche Merkblatt ist eindeutig zum Vorteil der Berufsgenossenschaften formuliert worden
und nicht für die Patienten“,
so Umwelt- und Arbeitsmediziner Professor Rainer Frentzel-Beyme (der zweite der "zehn Gerechten") aus Bremen.

„Dadurch sparen die Berufsgenossenschaften eine Menge Kosten, die wir alle über un-sere Arbeitslosen- und Krankenkassenbeiträge übernehmen müssen.

Und lange Zeit hat ja auch niemand diesen Fehler bemerkt.
“ Beide Fassungen zur BK 1317, sowohl die Originalausführungen im Bundesarbeitsblatt als auch die Empfehlungen im ärztlichen Merkblatt, stammen vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat des Gesundheitsministeriums.

Wie konnte es dazu kommen?

Der Vorsitzende, Professor Hans-Joachim Woitowitz, bedauert:
„Stimmt, da ist ein unverzeihliches Versehen passiert,
dessen Hintergründe noch nicht voll und ganz geklärt sind.
Wir freuen uns, daß das Merkblatt jetzt geändert wurde.“

 

Bild am Sonntag, 27.02.2005
Gesundheits-Skandal
Keine Entschädigung
für vergiftete Arbeiter
Von RENA BEEG