Gift im Körper

Rasches Erkennen und Handeln sind wichtig

Für keine Vergiftung gibt es ein charakteristisches Leitsymptom. Jedes Vergiftungssymptom kann auch bei anderen Krankheiten auftreten und daher mit diesen verwechselt werden.

Vergiftungen erkennen kann nur derjenige, dem verschiedene Vergiftungsformen bekannt sind. 1982 wurden in München mehr als 10 000 Patienten mit der Verdachtsdiagnose einer Vergiftung mit Krankenwagen in die Klinik transportiert Durch die laufende Ausbildung der Rettungssanitäter und Notärzte durch erfahrene klinische Toxikologen kam es zu dieser hohen Zahl der Frühdiagnosen. Außerordentlich selten handelte es sich dann um Fehldiagnosen wie etwa bei älteren Menschen, die bewusstlos und unterkühlt in ihrer Wohnung aufgefunden wurden, bei denen es sich dann um einen Schlaganfall handelte.

In Zweifelsfällen muss heute ein rascher Giftnachweis durchgeführt werden: Bei einem jungen Mann in einem Hotel, der angab, durch eine Migraine accompagne"e einen Tag bewusstlos im Hotel gelegen zu haben, bei dem sich im Hotelzimmer aber keinerlei Hinweise auf eine Vergiftung fanden, wurde in der Klinik eine aufwendige Diagnostik eingeleitet. Da das Klinikum über keine toxikologischen Nachweismöglichkeiten verfügt, führten wir zwischenzeitlich den Giftnachweis durch. Die Benzodiazepine waren stark positiv. Konfrontiert mit diesem Befund gab der Patient einen Selbstmordversuch mit Tabletten zu, nachdem der Versuch, sich zu erschießen, gescheitert war.

Ein älterer Patient mit Aphasie, Verwirrtheit und athetotischen Bewegungen sollte mit der Diagnose „apoplektischer Insult" in eine Klinik eingewiesen werden. Wegen seiner heißen, trockenen Haut und extrem weiten Pupillen, Hypertonie und Tachykardie wurde dann ein Toxikologe zugezogen. Nach Injektion von Physostigmin waren alle Symptome 20 min später verschwunden. Es stellte sich heraus, dass er versehentlich Tollkirschen gegessen hatte.

Ob ein Hirnödem durch eine neurologische Affektion oder eine Schlafmittel-, eine Kohlenmonoxid-, eine Blausäure- oder eine Alkylphosphatvergiftung ausgelöst wurde, läßt sich nur durch einen Giftnachweis abklären. Dieser muss natürlich außerordentlich schnell dem behandelnden Arzt vorliegen, denn das nach einer Vergiftung aufgetretene Hirnödem kann erst dann erfolgreich therapiert werden, wenn die ursächliche Vergiftung mit Dialyse oder Antidoten beseitigt wurde.

Wäre in Bhopal rechtzeitig die Art des Giftes durch Messung in der Giftgaswolke erkannt worden, dann wüsste man besser, mit welchen Vergiftungssymptomen 300 000 vergiftete Inder heute und in Zukunft zu rechnen haben.

So wie jeder Industriebetrieb die bei einem Unfall freiwerdenden Giftgase diagnostizieren können muss, sollte jeder Klinikarzt möglichst rasch wissen, ob sein Patient eine Vergiftung hat oder nicht. Es gibt eine große Anzahl von brauchbaren Schnelltesten, auf die jedoch leider meist verzichtet wird. Klinikärzte verlassen sich meist lieber auf die vagen Angaben von Selbstmördern, ja sogar von Mördern, oder auf Hinweise von Laien und bauen darauf ihre oft aufwendige Therapie auf.

Das geschieht, obwohl seit 10 Jahren bekannt ist, dass in 60% der Fälle das ursprünglich vermutete Gift durch den Giftnachweis nicht gefunden wird, entweder weil ein anderes Gift eine wesentliche Rolle spielt (z. El Arsen hei der Alkoholvergiftung) oder es lag sogar überhaupt keine Vergiftung vor.

Die Behandlung eines Vergifteten in der Klinik ohne sofortigen Giftnachweis käme der Behandlung eines Herzinfarktpatienten ohne Elektrokardiogramm gleich. Die Anzahl der in deutschen Kliniken zu behandelnden Vergiftungen ist etwa viermal höher als die der Herzinfarktpatienten. Auch bei bekannter Vergiftung entscheidet der Giftnachweis, ob der Körper nach der Vergiftungstherapie giftfrei ist und die Erscheinungen z. B. eines Hirnödems hei einer Schlafmittelvergiftung ganz anders zu behandeln sind („Trockenlegen") als zuvor das Koma (forcierte Diurese).

Entsprechend der Vielzahl von klinischen Problemen bei der großen Vielfalt von Vergiftungsursachen müsste es in jeder Klinik einen Spezialisten geben, der sich mit der Behandlung von Vergifteten befasst. Eine spürbare Effizienz kann dieser Toxikologe natürlich nur haben, wenn er über ein gut ausgerüstetes toxikologisches Labor verfügt. Dieses kostet zwar nicht ein Zehntel einer kardiologischen Einrichtung, dennoch gibt es in Deutschland nur zwei solcher Einrichtungen.

Dokumentation: G1, G2 Toxikologie

Dr. med. M. Daunderer, Weinstr. 11. D-8000 München 2.

Münch. med. Wschr. 127 (1985) Nr. 6 C MMV Medizin Verlag GmbH München, München 1985