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   Männliche Medizin  
    
   
  Von Domenika Ahlrichs  
   
   
  Frauen sind anders krank als Männer - doch viele Ärzte
  merken das nicht. Medizin in Forschung und Behandlung ist vor allem männlich.
  Gesund-heitsexperten fordern eine Neuausrichtung
  der Heilbranche.  
   
  Der Mann steht mit schreckgeweiteten
  Augen da, die Hand auf den fülligen Oberleib gepresst, dort, wo das Herz
  sitzt. Hinter ihm leuchtet der Schriftzug "Restaurant", auf dem
  Boden liegt eine glimmende Kippe. Ein dicker, ältlicher Mann, der
  offensichtlich gern isst, trinkt und raucht. "Ganz klar: Der hat einen
  Herzinfarkt", diagnostiziert Gabriele Kaczmarcyk,
  Anästhesistin an der Berliner Charité.  
   
   
  Das Bild des Mannes stammt aus einem Lehrbuch für
  angehende Mediziner. Für Kaczmarcyk ist das ein
  Beweis, dass die Medizin immer noch männlich ist. "Schon in der
  Ausbildung läuft vieles falsch", klagte die Ärztin in dieser Woche auf
  einer Podiumsdiskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin, in der es um
  die Frage "Wie männlich ist die Medizin?" ging.  
   
  Frauen sterben häufiger an Herzinfarkt  
   
  Beispiel Herzinfarkt: Bei Frauen kündigt sich der mit
  völlig anderen Symptomen an. Während Männer meist über Schmerzen im linken
  Oberarm klagen, schildern Frauen eher Brust-, Bauch- oder Rückenschmerzen,
  Übelkeit und Atemnot. Diese Erkenntnis ist nur wenig verbreitet, denn
  Herzinfarkt gilt noch immer als Männerkrankheit. Eine Umfrage ergab, dass 70
  Prozent aller weibli-chen Befragten Krebs als
  häufigste Todesursache bei Frauen vermuteten. Nur 20 Prozent stimmten fürs
  Herz. Eine fatale Fehleinschätzung: Die meisten Frauen sterben an
  Erkrankungen des Herzkreislaufsystems.  
   
  Die Folge: Die lebensbedrohliche Herzattacke wird oft
  weder von den Frauen selbst noch vom - meist spät herbeigerufenen - Arzt als
  solche identifiziert. Frauen kommen durchschnittlich gut 70 Minuten später in
  die Notaufnahme als Männer. Das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, ist
  deshalb bei Patientin-nen sehr viel höher als bei
  männlichen Opfern der Attacke.  
   
  "Das kollektive Bild von bestimmten Krankheiten
  muss gebrochen werden", forderte Cornelia Lange aus der Abteilung
  Gesundheitsberichterstattung des Ro-bert-Koch-Instituts
  Berlin. Herzinfarkt-Fehldiagnosen seien nur einer von vielen Belegen dafür,
  dass in der Medizin nach wie vor der Mann als "Maß aller Dinge"
  gelte. Auch bei Asthmaerkrankungen, Diabetes oder Osteoporose komme es zu
  Falschbehandlungen.  
   
  Falschdosierungen mit Todesfolge  
   
  Oft erhalten Patientinnen Medikamente, deren Wirkung auf
  den weiblichen Körper kaum erforscht wurde. Über- oder Unterdosierungen sind
  laut Kaczmarcyk an der Tagesordnung. Nach einer im
  "New England Journal of Medicine"
  veröffentlichten Studie zur Wirkung eines Präparats für Menschen mit Herzin-suffizienz kostet derartige Unkenntnis Frauen
  oftmals nicht nur die Gesundheit, sondern im schlimmsten Fall das Leben.  
   
   
  Medikamente: Wirkung auf den weiblichen Körper kaum
  erforscht  
   
  Rund 7000 herzkranke Männer und Frauen schluckten
  mehrere Wochen lang teils das Medikament, teils wirkungslose
  Placebo-Tabletten. Das Ergebnis: Es starben mehr weibliche Probanden, die das
  Medikament bekamen, als solche, die das Scheinmittel erhielten. Bei Männern
  war das Verhältnis eins zu eins. "Man findet solche alarmierenden
  Ergebnisse natürlich nur, wenn gezielt unter-sucht
  wird", kommentierte Kacmarcyk die Studie. Die
  Forschung müsse sehr viel mehr als bisher mit geschlechtsspezifischem Blick
  arbeiten.  
   
  Die Universität Bremen hat auf solche Forderungen schon
  reagiert. Seit einem Vierteljahr gibt es in der Hansestadt den ersten
  Lehrstuhl für weibliche Medizin. Hauptsächliches Forschungsgebiet der
  Professorin sind Herz- und Kreislauferkrankungen bei Frauen. Außerdem können
  sich Frauen dort in Gesundheitsfra-gen beraten
  lassen.  
   
  Forderung nach politischem Druck  
   
  Für die Parlamentarische Staatssekretärin im
  Bundesfamilienministerium, Christel Riemann-Hanewinckel
  (SPD), ist klar: Politischer Druck ist nötig, um medizinische Forschung
  insgesamt neu auszurichten. Aufträge müssten penibler geprüft, der
  geschlechtsspezifische Ansatz eingefordert werden.  
   
  Ohne Druck von außen wird sich auch nach Meinung von Kaczmarcyk nichts ändern. "Mediziner sind zur
  inneren Reform nicht in der Lage. Sie sind konservativ und angepasst",
  urteilte die Anästhesistin und stellvertretende Frauenbeauftragte an der
  Charité.  
   
  Nicht nur die Forschung leide jedoch unter einem
  maskulinen Blick. Auch die Tatsache, dass Führungspositionen im medizinischen
  Bereich überwiegend von Männern besetzt sind, wertet Kaczmarcyk
  als Nachteil für die Frau.  
   
  Der Arztberuf als Reparaturbetrieb  
   
  Dabei sei die Medizin grundsätzlich eher weiblich: Mehr
  als 50 Prozent aller Studierenden im Fach Medizin sind Frauen, in den
  Krankenhäusern arbeiten überwiegend Krankenschwestern, Pflegerinnen und
  Ärztinnen. Chefposten scheinen jedoch Männern vorbehalten. "Je höher die
  Position, desto geringer der Frauenanteil", bringt es das "Deutsche
  Ärzteblatt" auf eine Formel.  
   
  Nach einer Studie des Berliner Universitätsklinikums
  Benjamin Franklin  
  interessieren sich Frauen mehr für die Gesunderhaltung
  ihrer Patienten, während die männlichen Kollegen ihren Beruf eher als
  Reparaturbetrieb verstehen, der erst dann einsetzt, wenn etwas im Argen
  liegt. Eine der Folgen: Ärzte verordnen ihren Patienten deutlich mehr
  Schmerzmittel und Psychopharmaka und raten ge-nerell
  zu höheren Dosierungen. Ärztinnen suchen dagegen öfter das Gespräch, stellen
  mehr Fragen, geben mehr Informationen, bevor sie zum Rezeptblock greifen.  
   
  "Wir haben in Deutschland eine männlich dominierte
  Fabrikmedizin", urteilt Theodor Klotz, Urologe aus Weiden. Eine Medizin,
  der es an der "emotionalen Intelligenz von Frauen mangelt".  
   
  Laut Kaczmarcyk kein Grund zur
  Resignation: Frauen sollten diese Tatsache ins Positive kehren, sie als
  Herausforderung sehen, appellierte sie. Wer sich informiere, Rat einhole und
  Eigenverantwortung übernehme, könne selbst entscheiden und sich von der
  Behandlung und Meinung der Mediziner weitgehend unabhängig machen.  
   
  Möglichkeiten, sich zu informieren, gibt es genügend.
  Seit Dezember 2001 existiert in Berlin das "Netzwerk
  Frauengesundheit", mehr als ein Vierteljahrhundert besteht bereits das
  "Feministische Frauen Gesundheits
  Zentrum". Und bei der Suche nach Selbsthilfegruppen im Internet überwältigt
  die Anzahl der Ergebnisse.  
   
   
   
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  © SPIEGEL ONLINE 2003  
  Dr.Schwinger 
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