1960 Contergan Massenvergiftung auf Rezept Elterndiskussion

Beim Essen wurde zuhause nur über Patienten geredet. Vieles blieb in bleibender Erinnerung. Hier nur ein Beispiel. Vater berichtete, dass eine junge Frau von ihm immer Contergan verschrieben haben will, von dem er jetzt gelesen habe, dass es womöglich für Missbildungen bei Neugeborenen verantwortlich sei.

Die Ärztekammer habe aber wütend dagegen geschrieben, dass der Arzt Lenz ein eindeutig widerlegter Wichtigtuer sei. Meine Mutter konterte daraufhin: "Solange der geringste Verdacht besteht, dass etwas Missbildungen macht, darf es auf gar keinen Fall verschrieben werden".

Der Vater später: "Als ich es ihr verweigerte, ging sie zum Kollegen, der es ihr weiter verschreibt. Jetzt habe ich wieder eine Patientin verloren". Die wochenlange Diskussion ging weiter: "Der Klinikarzt muss das tun, was der Chefarzt verlangt, der Kassenarzt muss das tun, was die Kassenärztliche Vereinigung vorschreibt, nur der Privatarzt ist frei."

Nach einem Jahr wurde Contergan vom Markt genommen. Erst danach erfuhren die Ärzte von den Tausenden unglücklichen Kindern ohne Arme oder Beine und, daß der Kinderarzt Lenz längst ausführlichste Beweise seiner Untersuchungen vorgelegt hatte, die nur von der Herstellerfirma Grünenthal mit Erfolg lange juristisch verzögert wurden. Dumm standen dann die Ärzte da, die lange ihrer Ärztevereinigung geglaubt hatten.

Mein Vater hatte danach die Faustregel zu tausenden neuen Präparaten, die jedes Jahr ungeprüft auf den Markt kamen: "Erst wenn ein Mittel zwei Jahre auf dem Markt ist, dann versuche ich es bei meinen Patienten". Dies ersparte ihm später vielen Ärger und etwa die Hälfte der neuen "Superschlager" gab es nach dieser Zeit gar nicht mehr.

(Auszug aus meiner neuen Biografie)