Lexikon

DER SPIEGEL 8/1964 vom 19.02.1964, Seite 41

AUS MENSCHLICHKEIT T??TEN?

SPIEGEL-GesprÀch mit Professor Dr. Werner Catel Ìber Kinder-Euthanasie

SPIEGEL: Herr Professor, Sie wurden vor einigen Jahren im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Euthanasie-Aktionen öffentlich angegriffen. Sie rÀumten daraufhin Ihren Lehrstuhl in Kiel. Nun haben Sie in einem Buch vorgeschlagen, der Gesetzgeber sollte dem Arzt in gewissem, genau definiertem Umfang die Tötung vollidiotischer Kinder freigeben.

CATEL: Der Meinung bin ich allerdings. Freilich trifft auf die Ma??nahmen, die ich fÌr richtig halte, der Begriff "Euthanasie" eigentlich gar nicht zu. Und das, was ich fordere, hat auch mit dem, was die Verantwortlichen im Dritten Reich als Euthanasie ausgaben, nichts zu schaffen.

SPIEGEL: Wie sollte dieses Gesetz, an das Sie denken, die Euthanasie-Grenze fÌr die Kinder ziehen?

CATEL: ZunÀchst mu?? Àrztlich festgestellt sein, da?? bei dem betreffenden Kinde keine seelische Regung vorhanden ist. Solche Feststellungen sind bei der Geburt hÀufig noch nicht möglich. Oft wird man also monatelang warten mÌssen, wieder und wieder untersuchen ...

SPIEGEL: Wie untersuchen Sie denn sechs oder acht Monate alte Kinder auf seelische Regungen?

CATEL: Es gibt da viele Indizien, die Auskunft geben können, nicht mÌssen. Ob das Kind nach der Flasche greift, ob es lÀchelt, wie sein Reflexverhalten ist.

SPIEGEL: Manche Kinder sind FrÌh-, andere sind SpÀtentwickler. Wie stellt man fest, ob das Kind im untermenschlichen Stadium verharren wird?

CATEL: Glauben Sie mir, es ist in jedem Fall möglich, diese seelenlosen Wesen von werdenden Menschen zu unterscheiden. Solange noch geringste Zweifel bestehen, mÌssen die Untersuchungen eben fortgesetzt werden. Irgendwann aber steht absolut fest, da?? keine Entwicklung in Gang kommt: nichts als Lallen, keine sinnvoll gesteuerte Bewegung.

SPIEGEL: Das Fehlen des Au??enweltkontaktes ist also entscheidend. Körperliche Fehler, wie etwa ein Wasserkopf, sind allenfalls Indiz fÌr die fehlende Entwicklung zur Person.

CATEL: Indizien, ja, aber keine notwendige Voraussetzung fÌr die begrenzte Euthanasie, wie ich sie mir vorstelle. Ich habe Kreaturen gesehen, die fraglos Vollidioten waren und dennoch Àu??erlich hÌbschen Kindern glichen. Auch aus diesen Wesen kann trotz intensivster Àrztlicher und pflegerischer BemÌhungen nichts herausgeholt werden. Sie bleiben auf der Stufe des Neugeborenen stehen. FÌr immer ...

SPIEGEL: Wirklich? Laien, aber auch Mediziner weisen in der Euthanasie -Diskussion regelmÀ??ig darauf hin, da?? niemand mit letzter Sicherheit vorhersagen könne, ob sich nicht doch im Zustand solcher Kinder eines Tages mit Hilfe neuer Therapien, neuer chemischer oder technischer Mittel eine Besserung herbeifÌhren lasse.

CATEL: Bisweilen gelingt es, der Entstehung einer Idiotie vorzubeugen. Ist die Idiotie vorhanden, so mu?? die Àrztliche Kunst versagen.

SPIEGEL: Ist die Medizin hier schon auf gesichertem Grund?

CATEL: In 40 Jahren habe ich keinen Fall erlebt, in dem eine Besserung eintrat.

SPIEGEL: Ist Ihnen aus der Literatur ein Fall von Besserung bei einem von

der Medizin als unheilbar angesprochenen vollidiotischen Kinde bekanntgeworden?

CATEL: Keiner.

SPIEGEL: Gesetzt, es gÀbe eine gesetzliche ErmÀchtigung zur Euthanasie an Kindern, wie sollte sich nach Ihrer Vorstellung der Vorgang von der medizinischen Diagnose bis zur faktischen Tötung abspielen?

CATEL: Am Anfang stehen die Untersuchungen, wie ich sie vorhin andeutete.

SPIEGEL: Und dann?

CATEL: Dann mu?? der Arzt, der die Diagnose gestellt hat, die Situation mit den Eltern durchsprechen. Er mu?? ihnen die Wahrheit sagen, nÀmlich, da?? diesem Wesen nicht mehr zu helfen ist, da?? es nie ein Mensch werden wird. Die Eltern haben zu entscheiden.

SPIEGEL: So oder so?

CATEL: Ja.

SPIEGEL: Wie geht es weiter, wenn die Eltern fÌr die Euthanasie votieren?

CATEL: Der Arzt hat seine Diagnose gestellt, die Eltern haben ihre Zustimmung gegeben. Die letzte Verantwortung sollte nun bei einem Gremium von ??rzten und Laien liegen. Dieses Gremium ist fÌr eine gewisse Dauer bestellt und tritt regelmÀ??ig zusammen.

SPIEGEL: Eine Art Geschworene?

CATEL: So etwa. Doch dÌrfte die Euthanasie-Entscheidung leichter zu fÀllen sein als manches Urteil.

SPIEGEL: In der Bundesrepublik ist die Todesstrafe abgeschafft.

CATEL: Sehen Sie denn nicht, da?? die Geschworenen stets Ìber Menschen urteilen, wenn auch vielleicht Ìber Verbrecher. Hier ist die Rede nicht von Menschen, sondern von Wesen, die lediglich von Menschen gezeugt wurden, die aber selber keine mit Vernunft oder Seele begabten Menschen sind oder je werden können.

SPIEGEL: Das ist Ihre Auffassung. Die ??ffentlichkeit indes hat sich zwar an Indizien-Urteile gewöhnt...

CATEL: ... das ist noch ein wichtiger Punkt. Wenn Geschworene ihr "Schuldig" sprechen, so mÌssen sie doch stets damit rechnen, geirrt zu haben. Im Falle der idiotischen Kinder ist das Irrtumsrisiko auf den Nullpunkt heruntergesetzt. Verstehen Sie mich recht, die Vollidiotie, und nur die kommt ja in Frage, ist organisch bedingt und schlechterdings irreparabel. Da gibt es keine Therapien.

SPIEGEL: Wie möchten Sie Ihr Gremium zusammengesetzt wissen?

CATEL: Der zustÀndige Amtsarzt, mindestens zwei Àrztliche Spezialisten, jedoch nicht der behandelnde Hausarzt ...

SPIEGEL: ... der den Ablauf in Gang gesetzt hat ...

CATEL: ... der scheidet aus. Ferner sollten ein Jurist und ein Theologe dabeisein. Schlie??lich mu?? eine Frau, eine Mutter, dazugehören.

SPIEGEL: Glauben Sie denn, Herr Professor, da?? sich nach den nationalsozialistischen Exzessen, durch die jede Euthanasie auf offenbar lange Zeit diskreditiert wurde, Ìberhaupt noch Personen finden lassen, die zur Mitwirkung bereit sind?

CATEL: FÌr die Gegenwart gebe ich mich wenig Illusionen hin. Im Augenblick bestehen ja auch noch keine Aussichten auf eine gesetzliche Regelung.

SPIEGEL: Und in der Zukunft?

CATEL: Ich bin wirklich Ìberzeugt, da?? sich eines Tages die Humanitas

auch hier durchsetzen wird. Man wird erkennen mÌssen, da?? es menschlicher ist, die idiotischen Kinder von ihrem UnglÌck zu erlösen als sie zur Qual fÌr ihre Angehörigen vegetieren zu lassen.

SPIEGEL: Sie sagen "menschlicher". Ihre Kollegen, die es grundsÀtzlich ablehnen, in fremdes Leben einzugreifen, berufen sich ebenfalls auf die Gebote der Menschlichkeit.

CATEL: Was soll ich dazu sagen. Ich kann nicht sonderlich viel Achtung fÌr Kollegen aufbringen, die mit gro??er LautstÀrke von HumanitÀt und Lebenserhaltung sprechen und die gleichzeitig die Verzweiflung in den Familien mit einem idiotischen Kinde nicht sehen oder nicht sehen wollen. Wissen Sie, was es hei??t, eine Mutter, die mit ihrem vollidiotischen, absolut unheilbaren Kind wieder und wieder in die Sprechstunde kommt, mit Phrasen zu trösten, die Untersuchungen zu liquidieren - und weiter keinen Finger zu krÌmmen?

SPIEGEL: Was sollten die Kollegen sonst tun?

CATEL: Wenn sie wenigstens darauf verzichteten, in VortrÀgen emotionale, pseudo-moralische AusfÌhrungen zu machen: Prufungen durch Leid, SchicksalsfÌgung und dergleichen FÌllworte mehr. Jeder Arzt, der sich in der Praxis mit unheilbaren Idioten befassen mu??, wei?? von den bis zur Zerstörung reichenden Konfliktsituationen in den Ehen. Er kennt das immer neue Grauen beim Anblick der Monstren, die Auflösung sozialer Bindungen, das Ausbleiben weiterer, mit gro??er Wahrscheinlichkeit gesunder Kinder. Aber von alledem ist nicht die Rede.

SPIEGEL: Die Redner gehen wohl davon aus, da?? vollidiotische Kinder aus den Familien genommen und vom Staat betreut werden, in Anstalten ...

CATEL: Aber nein. Die meisten vegetieren, dazu oft noch unzulÀnglich versorgt, in den Familien. Die Demoralisierung der Umgebung ist unvermeidlich - wenn es sich nicht um seelisch besonders stabile Angehörige handelt. Hier könnten jene ??rzte Menschlichkeit beweisen, indem sie so ein idiotisches Kind in ihre Familie aufnehmen, zu ihren eigenen gesunden Kindern. Um die verzweifelten Eltern zu entlasten, die vielleicht auch gesunde Kinder haben; es ist nicht einmal einer bereit, in die Anstalten fÌr idiotische Kinder zu gehen, denen es an Pflegepersonal mangelt. Ich will es Ihnen sagen, warum: Der Anblick ist zu entsetzlich.

SPIEGEL: Sie sagten vorhin, es gebe auch Vollidioten, die Àu??erlich keine SchÀden aufweisen.

CATEL: Die Monstren Ìberwiegen bei weitem Idioten, denen Àu??erlich nichts anzumerken ist, sind selten. Da gibt es Wasserköpfe, fast grö??er als der Ìbrige Körper, Kleinstköpfe, wie eine Faust, offene SchÀdel, in denen das Gro??hirn fehlt, Augen, die disloziert sind ...

SPIEGEL: Nicht einmal fÌr diese krassen FÀlle bieten die Anstalten Raum?

CATEL: Wir haben leider keine exakten Zahlen. Meiner Erfahrung nach vegetiert mehr als die HÀlfte der vollidiotischen Mi??bildungen in den Familien.

SPIEGEL: WÀre denn die Euthanasie an vollidiotischen Kindern nach Ihrer Auffassung ÌberflÌssig, wenn der Staat bereit wÀre, genÌgend Anstalten zur VerfÌgung zu stellen?

CATEL: Jedenfalls wÀre dann die Legitimation meiner Gegner, die behaupten, aus Menschlichkeit die Euthanasie abzulehnen, etwas besser als sie es heute ist. Die gesetzliche Regelung der Euthanasie in dem Umfange, wie ich es beschrieben habe, hielte ich aber dennoch fÌr notwendig.

SPIEGEL: Warum?

CATEL: Auch der Anstaltsaufenthalt löst das Problem ja nicht. Die seelische Belastung der Eltern bleibt. Das Monstrum vegetiert weiter, sich selbst zur Qual.

SPIEGEL: Unterstellen wir einmal, da?? ein Euthanasie-Gesetz in Ihrem Sinne beschlossen wÀre, und auch, da?? sich Gremien finden lie??en, die bereit sind, die Verantwortung zu tragen. Wer soll denn die Exekutive Ìbernehmen?.

CATEL: Da?? wir uns nicht mi??verstehen. Das Kollegium gibt keinen Tötungsauftrag, wie etwa ein Gericht. Es fÀllt lediglich einen Spruch, der in einer Tötungsberechtigung gipfelt.

SPIEGEL: Wem wird die Berechtigung Ìbermittelt?

CATEL: Dem Hausarzt, der das Vertrauen der Eltern genie??t, und von dem die Anregung ausgegangen ist.

SPIEGEL: Wie ist es nun, wenn dieser, Hausarzt zwar die Voraussetzung einer Euthanasie fÌr gegeben erachtet, aber fÌr seine Person die Exekutive ablehnt?

CATEL: Dann, so wÌrde ich meinen, kÀme der Amtsarzt in Frage, von der Berechtigung Gebrauch zu machen.

SPIEGEL: Und wenn auch der Amtsarzt sagt: Ich mag diese Tötung nicht auf mein Gewissen nehmen.

CATEL: Wenn er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, dann braucht er auch nichts zu tun. Den Eltern bleibt dann nichts anderes Ìbrig, als einen neuen Arzt heranzuziehen ...

SPIEGEL: ... der sich dann mit dem ersten Hausarzt und mit dem Kollegium erneut in Verbindung setzen mu??.

CATEL: Ja.

SPIEGEL: Ist schon zweifelhaft, ob sich ??rzte finden, die bereit sind, die Nach-Richter-Funktion zu Ìbernehmen, so erscheint fast noch fraglicher, ob Theologen in den Entscheidungs-Gremien mitarbeiten werden. Die Stellung beider Konfessionen zur Lebensvernichtung ist ja wohl eindeutig - vom Falle des Krieges einmal abgesehen.

CATEL: Lassen Sie mich zuerst auf die Protestanten eingehen. Vor der nationalsozialistischen Zeit, also im ersten Drittel des Jahrhunderts, gab es eine Reihe namhafter Theologen, die der Auffassung waren, es widerspreche der christlichen Ethik nicht, einem untermenschlichen Vegetieren - und jetzt zitiere ich wörtlich -, "das lediglich sich selbst zur Last fÀllt, abgesehen von der Belastung anderer, ein Ende zu bereiten".

SPIEGEL: Von wem stammt dieses Zitat?

CATEL: Von Ludwig Lemme. Lemme war Ordinarius in Bonn. ??hnliche Auffassungen vertraten Ìbrigens Arthur Titius, ein sehr berÌhmter Mann, und Heinrich Weidel, der eine Ordinarius in Kiel, der andere in Jena. In Wesen, deren Seelenleben sich nicht Ìber das Niveau pflanzlichen oder tierischen Lebens erhebt, könne keine ReligiositÀt aufkommen. Solche Wesen hÀtten daher auch keinen Ewigkeitswert.

SPIEGEL: Gibt es einen zeitgenössischen Protestanten, der Àhnlich denkt?

CATEL: Sie wissen, da?? das Thema gegenwÀrtig bestenfalls in Studierzimmern erörtert wird. Immerhin, kÌrzlich sprach ich mit dem Kieler Theologen Meinhold. Professor Meinhold versicherte mir, da?? die Frage der Euthanasie an vollidiotischen Kindern dogmatisch noch keineswegs entschieden sei. Unbestritten sei jene Kinder-Euthanasie, die mir vorschwebt, "als Handlung zu verstehen, die von einem unter der Bindung an Gott stehenden Gewissen ausgeht".

SPIEGEL: Gibt es positive katholische Stimmen?

CATEL: Auch die sind, wenn ich mich nicht tÀusche, vorhanden. So hat sich der MÌnchner Theologe Professor Walter insofern zustimmend geÀu??ert...

SPIEGEL: ... zu der von Ihnen vorgeschlagenen begrenzten Kinder-Euthanasie?

CATEL: Nein, nicht so speziell. Er hÀlt aber "die Erhaltung des Menschenlebens fÌr Pflicht, wo nicht Gott aus höheren GrÌnden davon entbindet". Diese EinschrÀnkung erscheint mir entscheidend: Wo nicht Gott aus höheren GrÌnden davon entbindet.

SPIEGEL: Walter dÌrfte bei dieser Formulierung von Regel und Ausnahme eher an den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln im Kriege gedacht haben. Solche oder Àhnliche ??u??erungen können doch nicht ohne weiteres auf die hier zur Diskussion stehende Frage der Euthanasie Ìbertragen werden. Der Angriff auf das Einzelleben wird von katholischer Seite nun einmal anders beurteilt als die Tötung im gro??en Stil, die sich politisch legitimiert hat.

CATEL: Lassen wir einmal die Kirchen beiseite. Im Mittelpunkt echten Arzttums steht die Liebe. Und das kann meines Erachtens nichts anderes bedeuten, als da?? der Arzt heilen und helfen soll, solange Hilfe möglich ist. Wenn direkte Hilfe ausgeschlossen ist, dann ist seine Aufgabe aber noch nicht zu Ende, dann mu?? er Schmerzen lindern, soweit es in seinen KrÀften steht.

SPIEGEL: Leiden vollidiotische Kinder unter Schmerzen...

CATEL: Nachweisbar ist das nicht. Schmerzempfindung setzt Bewu??tsein voraus, das idiotischen Kindern fehlt.

SPIEGEL: ... oder soll der Arzt in diesen FÀllen die Schmerzen der Angehörigen lindern?

CATEL: Ich sagte doch, der Arzt steht unter dem Gebot der Liebe. Es sind in der Tat die Eltern und die Geschwister

der idiotischen Mi??geburten, an die er denken mu??, nachdem den Idioten selbst keine Hilfe gebracht werden kann. Auch das gehört zu seinen rechtverstandenen Pflichten.

SPIEGEL: Zu seinen Pflichten?

CATEL: Ein Beispiel aus meiner Praxis. Ich wurde in eine Familie gerufen. Beide Eltern berufstÀtig. Das jÌngere Kind lallte nur tierisch, erkannte weder Vater noch Mutter, verbrachte sein Leben auf einem StÌhlchen mit untergesetztem Topf fÌr die Entleerungen. Bestenfalls schleppte es sich um den Tisch, wobei es seine ZÀhne in die Tischkante bohrte. Das Àltere Kind, ein etwa achtjÀhriger, blÌhender, völlig gesunder Junge, hatte die Aufgabe, tagein, tagaus seine idiotische Schwester zu betreuen. Dieses Kind ist das Opfer. Es wird seelisch ruiniert.

SPIEGEL: Gab es keine Möglichkeit, das kranke Wesen in eine Anstalt zu geben?

CATEL: Entweder wurde die Aufnahme aus Bettmangel abgelehnt, oder die Anstalten erklÀrten, da?? sie nur Kranke, aber keine Idioten aufnehmen.

SPIEGEL: Wie viele Idioten werden jÀhrlich in Westdeutschland geboren, Wesen, bei denen Sie eine Euthanasie erwÀgen wÌrden?

CATEL: Im humangenetischen Institut MÌnster erschien 1958 eine Arbeit, aus der hervorgeht, da?? unter 820 000 im Vorjahr geborenen Kindern 25 000 waren, die nicht die Intelligenz eines ZwölfjÀhrigen erreichen oder Ìberschreiten werden, und 2000 Kinder, die Vollidioten sind, Wasserköpfe, gespaltene Köpfe, Mi??bildungen jeder erdenklichen Art.

SPIEGEL: Und wie viele solcher vollidiotischen Kinder gibt es gegenwÀrtig in der Bundesrepublik?

CATEL: Ich habe die eben genannte jÀhrliche Geburtsquote mit acht multipliziert und komme dann auf die Zahl von 16 000.

SPIEGEL: Kann man mithin bei Vollidioten eine durchschnittliche Lebenserwartung von acht Jahren annehmen?

CATEL: Nein. FÌr eine fundierte Annahme wÀre weiteres statistisches Material notwendig, das es auf diesem Gebiet nicht gibt. Aber natÌrlich habe ich mich mit der Lebenserwartung der Idioten beschÀftigt. Sie ist herabgesetzt.

SPIEGEL: LÀ??t sich das denn gar nicht prÀzisieren?

CATEL: Es gibt eine verhÀltnismÀ??ig neue amerikanische Statistik. Das Material stammt aus einem einzigen, freilich sehr gro??en Krankenhaus. Von den wÀhrend des Berichtsjahres geborenen 775 Anenzephalen, das sind Kinder mit fehlendem Gro??hirn, starben am ersten Lebenstag 647. Aber 14 Ìberlebten das vierte Lebensjahr. Wie alt diese 14 wurden, geht aus der Untersuchung nicht hervor. Von 886 Wasserköpfen starben am ersten Lebenstag 278. Die Zeit von vier Jahren Ìberlebten 129. Von 590 anderen Hirnmi??bildungen - und nur auf solche bezieht sich diese Untersuchung - starben am ersten Lebenstag 100. Aber 165 wurden Àlter als vier Jahre. Fasse ich zusammen, so war es so, da?? von insgesamt 2351 lebend geborenen Kindern mit Mi??bildungen des Zentral-Nervensystems nicht weniger als 308 das vierte Jahr Ìberlebten.

SPIEGEL: Herr Professor, diese drei Gruppen - fehlendes Gro??hirn, Wasserköpfe, andere Hirnmi??bildungen - sind es wohl auch, auf die sich im wesentlichen die Euthanasie beziehen wÌrde, die Ihnen vorschwebt?

CATEL: Ja.

SPIEGEL: Was hat man sich unter "andere Hirnmi??bildungen" vorzustellen?

CATEL: GehirnbrÌche beispielsweise. Oder es können bestimmte Gehirnteile nicht angelegt sein, ohne da?? schon von fehlendem Gro??hirn gesprochen werden könnte.

SPIEGEL: Und an eine Euthanasie ist nach Ihrer Auffassung nur zu denken, wenn das Gehirn falsch gebildet oder weitgehend zerstört ist. Körperliche Mi??bildungen, etwa am RÌckenmark, genÌgen fÌr sich allein niemals?

CATEL: Nein. Die völlige Idiotie ist Voraussetzung, also die Stufe des Neugeborenen. Zeigt sich irgendein, wenn auch noch so geringer Kontakt zur Au??enwelt, eine noch so bescheidene Entwicklung zum Menschen hin, dann ist die Euthanasie ausgeschlossen. So darf man auch nicht sagen, da?? nun etwa jeder Wasserkopf unter die Euthanasie fallen wÌrde. Ich habe Wasserköpfe zu behandeln versucht, indem ich den Entstehungsort der HirnflÌssigkeit röntgenbestrahlte. Ich habe dabei, in einigen FÀllen wenigstens, einen Stillstand der Wasserkopfzunahme und dann auch gewisse Fortschritte in der geistigen Entwicklung erzielen können.

SPIEGEL. Gibt es noch eine andere Gruppe, bei der die Unterscheidung so schwierig ist, eine Grenzgruppe, wenn wir so sagen dÌrfen, die zum Teil behandelt werden kann?

CATEL: Ich wurde die Mongoloiden nennen. Mongoloide Kinder sind in der Regel nur schwachsinnig, erreichen also, je nachdem, die Stufe von Vier- oder gar von ZwölfjÀhrigen. Immerhin gibt es unter den Mongoloiden auch einzelne Vollidioten.

SPIEGEL: Und die Schwachsinnigen unter den Mongoloiden kann man zu behandeln versuchen?

CATEL: Ja. Wir wissen, da?? der Mongolismus auf einer Fehlbildung der Chromosomen beruht. Es wÌrde zu weit fÌhren, die verschiedenen Behandlungsmethoden zu diskutieren, Ìber die das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Ich habe beispielsweise an Mongoloiden Versuche mit Frischzellen angestellt und glaube, da?? ich in einigen FÀllen gewisse Erfolge festgestellt habe. Das alles ist noch im Flu??...

SPIEGEL: Die Grenzziehungen sind offenbar ungeheuer diffizil. Die Gefahr ist doch, da?? sich eine Euthanasie, sollte sie erst einmal eingefÌhrt sein, nicht in den engen Grenzen festhalten lÀ??t, die Sie ihr ziehen möchten.

CATEL: Dasselbe könnten Sie meines Erachtens mit mehr Recht gegenÌber jeder Vollmacht einwenden, die von der Gesellschaft an bestimmte Menschen Ìbertragen ist. Das Verfahren mÌ??te selbstverstÀndlich öffentlich sein. Mehr als eine Kontrolle durch die ??ffentlichkeit haben Sie der Justiz oder, wenn Sie so wollen, der ganzen Medizin gegenÌber auch nicht.

SPIEGEL: Herr Professor, wir danken Ihnen fÌr dieses GesprÀch.

Catel beim SPIEGEL-GesprÀch in seinem Haus in Kiel*

* Mit SPIEGEL-Redakteur Hermann Renner.

DER SPIEGEL 8/1964
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