Das Feer-Syndrom oder die Akrodynie

 

Emil F. Feer (1864-1955), der bekannte Pädiater in Zürich, beschrieb 1923 ein Krankheitsbild, das als toxallergische Stammhirnenzephalitis in die Weltliteratur einging und mit einer weiteren Symptomenpa­lette als Feer-Fanconi-Felter-Swift-Chomel-Syndrom als reine Quecksilbervergiftung erkannt wurde.

Quacksalber werden die genannt, die mit Quecksilber alles zu heilen glauben (Fuller).

 

Synonyma der Krankheit sind: Akrodynie(-syndrom), vegetative Neuropathie, Trophodermatoneurose, Rosakrankheit.

 

Fehldiagnosen sind: Hysterie, Neurose, Schizophrenie u. a.

Vorkommen:

Während früher quecksilberhaltige Salben (graue) oder Zahnputzmittel bzw. zerbrochene Fieberthermo­meter die wesentliche Ursache für Quecksilbervergiftungen waren, sind es heute fast ausschließlich Amalgamfüllungen der Mutter, die das Kind durch das sechsfach stärker belastete Fetalblut krankmachen, bzw. eigene Amalgamfüllungen.

 

Amalgam enthält mindestens 50% Quecksilber, das im Mund verdampft.

 

Fanconi diagnostizierte in den 30er Jahren in London über 30 000 Kinder mit diesem Syndrom. Nach der Erkennung und Vermeidung der grauen Salbe als Giftquelle sank die Krankenrate auf ein Zehntel herab. Dies bewies eindeutig als Giftquelle Quecksilber.

Erwachsene erkranken ebenso wie Kinder (Bode, Klein) - nur wird hier das Erkrankungsbild fast aus­schließlich als psychisch bedingt fehlgedeutet (Bockers), da die Giftwerte nur im Gehirn (Kernspin) ein­deutig erhöht sind.

Wirkungscharakter:

Kinder, Schwangere, Allergiker und Patienten mit einem Spurenelementmangel sind mindestens um den Faktor 100 empfindlicher als Gesunde. Die Toxizität ist um den Faktor 1000 höher, wenn Quecksilber eingeatmet wird (GAdicke}, intraoral ist die Quecksilberkonzentration bei Amalgamträgern im Schnitt um den Faktor 32 höher als bei Amalgam-Freien (BGA).

Resorption auch über die (Schleim-)Haut. 

 

Bindung und Inaktivierung von Sulfhydrylgruppen der Enzyme.

Störung der Synthese der Sphingomyeline, „neuroallergische“ Reaktionsform auf Quecksilber.

 

Die klinische Besserung geht einher mit dem Absinken der Quecksilberkonzentration.

Toxizität:

Für Quecksilber gibt es keinen „no effect level“, d. h. das Feer-Syndrom tritt auch bei geringsten Konzen­trationen auf, was auch die Zunft der „Quacksalber“ einst in Verruf brachte.

 

Die Folgen sind durch die Speicherung im Kieferknochen und im Gehirn zum großen Teil irreversibel.

 

Die Mortalität der nicht erkannten Erkrankung wird mit 5 – 7 % beziffert, der Tod tritt meist durch Lun­geninfektionen (BodE) bzw. Schlafapnoe (Krippentod) ein.

Interaktionen:

Zink- und Selenmangel begünstigt die Schwere der Erkrankung.

Bei Kranken wird Blei, Thallium, Arsen, Aluminium und Pentachlorphenol verstärkt gespeichert.

Im Amalgam verstärkt das Zinn die Hirntoxizität (Koma, Ataxie), das Silber die Erkrankung der Sehnen und Bänder (lschialgie) und Kupfer die Lebertoxizität. Amalgame mit Aluminium werden bei Morb. Alz­heimer im Gehirn gefunden.

Formaldehyd, Wohngifte, Lösungsmittel, Alkohol und andere Nervengifte verstärken die Symptomatik.

Symptome:

Appetitlosigkeit

Bewegungsstörung (Känguruhstellung)

Fieber

Fingerspitzen feucht-rot-blau, schmerzhaft

Frieren

Gewichtsverlust (Anorexie)

Gliederschmerzen

Haarausfall

Hautekzem

Hautschuppung

Herzjagen

Hirnentzündung

Hochdruck

Hypersexualität

Juckreiz

Krämpfe, epileptiform                                                                                                                              

Lähmungen (Ataxie, Steppergang, Polyneuritis, Polyradiculitis, Landry)

(Lichtscheu)

Müdigkeit, chronische

Mund-Schleimhautentzündung

Muskelschwäche und -schrumpfung

Pelzigkeit der Glieder

Reizbarkeit

Schmerzen, lanzenstichartig (Hexenschuss)

Schweiß (Mäusegeruch)

Speichelfluss

Tod durch Atemlähmung (Schlafapnoe) und M. Alzheimer

Tränenfluss

Wesensveränderung (Depression, weinerliche Art, Negativismus, Schlafumkehr, Apathie)

Zahnlockerung und -Ausfall

Zittern

Zuckerentgleisung

 

Nachweis:

DMPS-Test im Urin

Kiefer-Panorama-Röntgen (OPT)

Kernspintomografie (Multi-lnfarktsyndrom)

Hausstaubuntersuchung                                      

 

Pathologie:

Degeneration der Markscheiden (irreversibel) Degeneration des Zwischenhirns

Therapie:

Expositionsstopp (Zähne extrahieren und Depots ausfräsen) DMPS in Kiefer injizieren (alle 6 Wochen).

Recht:

Arzneimittelschäden bis 500 000 DM sind versichert vom Hersteller (Formular bei der Allianz abrufen). Die Vergiftung mit Zahnamalgam geschieht definitionsgemäß mit mindestens 50 % Quecksilber. Sie ist iatrogen, d. h. durch den Zahnarzt verursacht. Diese Vergiftung ist wie jede sehr heimtückisch. Da fast kein Arzt diese Vergiftung erkennt, ist die Dunkelziffer extrem groß.

Literatur:

BGA: Amalgame in der zahnärztlichen Therapie, Jan. 1992

BÖckers, M., Schönberger* W., Oster, 0.t Neumann, P.: Inhalative Quecksilbervergiftung unter dem klinischen Bild einer Akro­dynie (Selter-Swift-Feer), Dtsch. med. Wschr, 108, 825 (1983) Boot, H. G., Scheuffler, A.: Feer’sche Krankheit, Z. Haut-Geschl. 43, 241 (1933)

Bureau, Y.M.M., Boiteau, H., Barriere, H.,Titoux, P., Bureau, B.: Acrodynie d’origine mercurielle. Bull. Derm. 77, 184 (1970), Faconi, G.( Botzdztein, A., Schenker, P.: Überempfindlichkeitsreaktionen auf Quecksilbermedikation im Kindesalter. Helv. pae-diät. Acta (Suppl, 4) 2, 3 (1947)

FUller Royal, F.: Are dentists contributing to our declining health? Towns. Lett. 5, 311 (1990) Fessler, A.: Hautveränderungen bei der Feer’schen kindlichen vegetativen Neurose, Arch. Der. Syph. 173, 283 (1936) GÄdicke, L., Heuver, E.: Intrafamiliäre, subakute Quecksilbervergiftung bei Kindern. Med. Welt 13, 1768 (1962) Klein, M.: Feer’sche Neurose, eine Überempfindlichkeitsreaktion des Kindes auf Quecksilbermedikation, Med, Klin. 46, 101 (1951)

Die Akrodynie (Feer’sche Krankheit) der Prototyp einer iatrogenen Erkrankung*

Historisches

Die Akrodynie ist seit der monographischen Beschreibung des Schweizer Kinderarztes Prof. Dr. Emil Feer (1923) allgemein bekannt.

Allerdings hat Chardon bereits 1830 von einer eigenartigen „Epidemie“ in Frankreich berichtet, für die er den Namen Akrodynie vorschlug.

Selter beschrieb sie 1903 als Trophodermatoneurose.

Aber erst 1914 wurde die Krankheit neu entdeckt, und zwar in Australien: Swift sprach von Erythrodermie, Clabb von pink disease. Fanconi, Bozstejn und Schenker (1947) sowie WaRkanie (1948) haben auf die ätiologische Bedeutung des Quecksilbers hingewiesen, welches Kindern z. B. in kalomelhaltigen Zahnungsmitteln und quecksilberhaltigen Wurmmitteln verabreicht wurde.

Warkany publizierte 1948 in Cincinnati, dass bei der Akrodynie bis 270 µg Hg/1 ausgeschieden wird.

Ein weiteres Zentrum der Akrodynieforschung befand sich in Frankreich, wo insbesondere die Forscher Boucomont, CombY, DebrÉ mit seiner Pariser Schule, ferner Haushalter, PÉhu und Mitarbeiter, Rocaz durch seine wertvollen Monographien, Woringer und viele andere mehr, bestrebt waren, das Rätsel der Akrodynie zu lösen. Die Hydragyria cutis wurde 1947 von Mayerhofer (Professor an der Universitätskin­derklinik Zagreb) mit anderen Metallvergiftungen im Mendeleffschen System der Elemente erwähnt.

 

* Renate Frank (Feer-Syndrom-erkrankt) ehrenamtliche Mitarbeiterin der SHG der Behinderten für Ganzheitsmedizin

Klinik

Prof. Dr. Emil Feer nannte die Krankheit vegetative Neurose des Kleinkindes, weil die Symptome sich als Folge einer Übererregbarkeit des autonomen, sowohl des sympatischen als auch des parasympatischen Nervensystems erklären. In seinem Lehrbuch „Diagnostik der Kinderkrankheiten“ beschrieb Feer 1947 das Krankheitsbild wie folgt:

 

Beginn schleichend mit Störung des Allgemeinbefindens, psychische Veränderung, Anorexie, Insomnie, Abmagerung, Schweiße, Zyanose der feuchtkalten Hände und Füße mit Desquamation, verminderte Motilität bis lähmungsartiger Schwäche, Tremor, Tachykardie, erhöhter Blutdruck, Hyperglykämie, ver­mehrte Adrenalinausschüttung, Hyperglobulie, oft trophische Störungen, Ausfall von Haaren und Zähnen, Ulceration im Mund und auf der Haut, Nekrosen und Abstoßung von Fingergliedern. Verlauf chronisch, Tod in 5 - 10 % durch Pneunomie oder Sepsis, Atemlähmung und Krippentod.

 

Auffällig sind starke Lichtscheu, psychische Depression, Schmerzen der Extremitäten, Krampfanfälle. Leichte Fälle (Schweiß, Lichtscheu) sind an der Tachykardie und der Hypertension zu erkennen. Die Grundlage bildet eine degenerative Störung des vegetativen Nervensystems, dessen Zentren im Hirnstamm liegen und die sich in einer Dystonie des sympatischen und parasympatischen Systems äußern.

Bei schwer anhaltenden Störungen durch die Feer’sche Krankheit kommt es zu schweren somatischen Schädigungen.

 

Bei älteren Kindern zeigen sich Facialisphänomene, Lidflattern, Herzklopfen, Farbwechsel, pavor nocturnus, Pollakisurie, Onanie, Nabelkoliken, Darmspasmen, Ohnmachten, Wutkrämpfe, Stottern, Schaukelbewegungen, feuchte Hände und Füße, Hyperthermie, Ferner sind hier zu nennen Migräne, Tik-Krankheiten, Stottern, Kopfschmerzen, krankhafte Phantasietätigkeit, pathologische Träumerei, Zwangs­handlungen, depressive Verstimmung, Aufregungszustände, Wutanfälle usw.

 

Es können sich ausgesprochene Psychopathien entwickeln mit gestörten Trieben und Instinkten, Schwer­erziehbarkeit, Grübelsucht, Hemmungslosigkeit usw.

 

Schon beim Säugling tritt die Neuropathie in Erscheinung als Schreckhaftigkeit, auffälliges Schreien und Weinen, Neigung zu Schweißen, leichter Schlaf, Dermographismus, Reflexstörungen, Anorexie und man­gelndes Gedeihen (Prof. Dr. Feer).

 

Hier ist der Moment, um auf die bemerkenswerte Arbeit von Prof. Mayerhofer über Poliomyelitiden und deren ätiologische Beziehung zur infantilen Akrodynie einzugehen. Der Autor beschreibt drei atypische Fälle von Polyomyelitis mit Beteiligung des Gehirns, welche zwei Monate bzw. sieben Wochen bzw. sechs Monate nach der Lähmung, Symptome der Feer’schen Krankheit bekamen. Die Akrodyniesymptome waren in den gelähmten Gliedern ausgesprochener als in den normalen.

                                                              

Er schreibt: „So beobachtete ich z. B. kindliche Poliomyelitisrekonvaleszenzen, welche in ihrer Genesungs­zeit, in der bekanntlich die gelähmten Arme und Beine auffallend kühl und ohne Schweiße sich anfühlen, plötzlich an diesen Extremitäten wärmer wurden. Weiterhin hyperämisieren sich auch die Hohlhand und die Sohlen, sie beginnen stark zu schwitzen und zeigen nach solchen länger oder kürzer währenden Attacken, die für die infantile Akrodynie typischen mazerativen Hautschälungen.

 

Faconi, Nachfolger von Feer: Den Eltern fallen in der Regel zuerst die psychischen Störungen auf. Das Kind wird verdrießlich, reizbar, der Gesichtsausdruck traurig oder mürrisch, es gelingt aber, das Kind zum Lachen zu bringen, und man bekommt leicht einen guten psychischen Rapport zu ihm. Es ist also weniger die Psyche als vielmehr die vom Zwischenhirn beherrschte mimische Äußerung derselben, die verändert ist. Typisch sind Störungen des Schlafes. Die ganze Nacht „nestet“ das Kind im Bett herum, ohne Schlaf zu finden, und schlummert dafür tagsüber (Schlafumkehr wie beim postencephalitischen Parkinsonismus). Bald gesellen sich Haut und Schleimhautveränderungen hinzu. Die Haut fühlt sich feucht an, die Nägel werden brüchig, ebenso die Haare, die häufig wegen Haarschmerzen von den Kindern ausgerauft werden. Die Muskulatur ist hypotonisch oder gar adynamisch. Wegen der gestörten extrapyramidalen Innervation nehmen die Kinder außergewöhnliche Körperstellungen ein, die zusammen mit dem missmutigen Gesicht den Erfahrenen prima vista auf die Diagnose hinlenken. Die Eigenreflexe können abgeschwächt, ja erlo­schen sein. Oft besteht ein deutlicher Tremor der hochgehaltenen Hände wie bei einem Basedow.

 

Die kardiovaskulären Störungen, auf die Feer zuerst aufmerksam gemacht hat, gehören zu den Kardinal­symptomen der Akrodynie.

 

Eine Tachykardie bis zu 180 Pulsschlägen, auch ohne Temperaturerhöhung, zusammen mit einer Hypertension bis 140 mmHg und darüber ohne Nierenschaden kommen kaum bei einer anderen Krankheit des Kleinkindes vor. Weniger charakteristisch sind die Störungen des Stoffwechsels. Oft besteht hartnäckige Appetitlosigkeit, die zu starker Abmagerung führt, bald gesellen sich Verstopfung, bald häufige kleine Defäkationen und Pollakisurie hinzu. Die Temperaturkurve kann unregelmäßig verlaufen. Infolge von Sekundär­infektionen, zum Teil wohl auch wegen einer Störung der Wärmeregulation, kann die Kurve subfebril oder auch hochfieberhaft verlaufen.

 

Das Blut ist eingedickt, der Hämoglobin- und Serumeiweißwert erhöht, der Hämatokritwert im Plasma erniedrigt. Der Blutzucker schwankt unregelmäßig (Glykolabilität), gelegentlich findet man eine Glykosurie. Der Liquorbefund ist meist normal, ab und zu findet man Eiweißvermehrung, besonders in den Über­gangsformen zur Polyradiculitis.

 

Die Kombination einer Polyradiculitis mit disseminierten Entmarkungsherden im Gehirn und Rücken­mark, d.h. mit einer Encephalomyelitis disseminata, subacuta führt zur auch im Kindesalter vorkommenden multiplen Sklerose über die Akrodynie, welche als neuro-allergische Reaktionsform auf Queck­silber aufzufassen ist.

 

Vieles spricht dafür, dass bei der Entstehung von neurologisch-allergischen Prozessen leblose Allergene, ja Haptene wie Quecksilber, die Auslöser sein können.

 

Choreaähnliche Krankheitsbilder wurden als neuroallergische Quecksilberreaktionen nach Wurmkuren mit Kalomel beschrieben. 

(Handbuch Amalgamvergiftung)